Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
Baikalexpress ratterte – was leicht war, denn die Uhren im Zug und auf den Bahnsteigen zeigten Moskauer Zeit an –, habe ich weder meine Uhr noch unseren Lebensrhythmus umgestellt. Das Zugrestaurant öffnete und schloss nach Moskauer Zeit. Servierte Frühstück, Mittag- und Abendessen nach Moskauer Zeit. Und auch zwischen unserer Sankt-Petersburg –Irkutsk-Familie gab es ein stilles Übereinkommen darüber, wann aufgestanden, gegessen und ins Bett gegangen wird. Zeitzonen? Gott bewahre.
Und jetzt stehen wir da. Besser: sitzen. Im Strandkorb. Am Baikalsee. Mit der Morgenmüdigkeit noch in den Knochen, ungefrühstückt. Und die Abenddämmerung setzt langsam ein.
»Es gibt Züge in Sibirien, die fahren gestern los«, hatte mich Olga gestern Abend noch lachend auf dieses Dilemma vorbereiten wollen.
»Und was mache ich mit Babys, die heute noch wach sind, obwohl sie gestern schon hätten einschlafen sollen?«, frage ich die imaginäre Olga. Aber sie lächelt nur ihr warmherziges spitzbübisches Lächeln.
Zum Glück mag Levi Omul zum Frühstück. Eine Fischart, die es nur im Baikalsee gibt. Auch die Weintrauben, die ich dazu reiche, schnuckert er weg wie ein Staubsauger. Wir genießen noch eine Stunde den Blick auf den See. Levi sortiert Steine, und ich versuche, das Rattern etwas leiser zu stellen. Dann ist es einfach zu dunkel und zu kalt. Als wir zu unserem Chalet zurücklaufen, merke ich, dass sie mir fehlt. Die Erleichterung. Und die Vorfreude: auf die Dusche. Nach Tagen der provisorischen Körperpflege auf Basis von Feuchttüchern in der Transsib.
Alle haben mich vor unserer Abreise mit schlecht verstecktem Ekel gefragt, wie ich das denn im Zug aushalten wolle. Die Reiseführer und Transsibseiten im Internet sind voller Formulierungen der Art: Und dann genießen Sie erst einmal die erste Dusche. Das Hotel hat tolle Duschen! So können Sie provisorisch auch im Zug duschen! Ich hingegen liebe es, wenn bei Abenteuerreisen erst die Kleidung, dann Haare und ganz zum Schluss auch die Haut Patina bekommen. Eins zu werden mit meinen gut eingelaufenen Wanderstiefeln, den geliebten ausgebeulten atmungsaktiven Hosen und der superleichten wind- und wasserfesten Jacke. Urlaubsgebrauchsspuren. Cowboyfeeling. Freiheit. Das ist mein »Gemütlich auf dem Sofa sitzen«-Gefühl.
Fast widerwillig wasche ich mir also, als Levi seinen Omul-Verdauungs-Schlaf macht, das Gefühl von Transsib vom Körper. In mir rattert es weiter.
Heute keine Tour
Ich sitze auf unserem Balkon und blicke durch den dreieckigen Birkenrahmen der rechts und links aufsteigenden Berge auf den Baikalsee. Das seitlich fehlende Balkongeländer beunruhigt mich. Das russische Bier in meiner Hand – blaue Dose und große Ziffer 3 im kyrillischen Buchstabenmeer – gibt mir Halt.
Die Straße, die vom Baikalsee hinauf zu unserem Holzhaus führt, ist an den Seiten ausgefranst. Ein Mix aus Hexenhäuschen aus dunklem Holz mit blauen Fensterläden, modernen Holzchalets, bei denen ganze Wände nur aus Glas bestehen, und einem grauen Plattenbau verziert die Straßenränder. Vor einem Holzhaus grasen zwei Kühe. Im Garten unter mir stapelt ein junger Mann Holzscheite in einen gemauerten Grill, bewacht von den Augen Taras.
Ich beschließe, einfach auf dem Balkon sitzen zu bleiben und auf den See zu schauen, solange Levi schläft, und danach – ganz im Rhythmus der Transsibirischen Eisenbahn – mit ihm seine gewohnte Spielsession mit dem Weltenball vor dem Abendessen einzuläuten. Ob wir einen adäquaten Ersatz für den Zuggang finden? Und eine zweite Rita? Bevor Levi aufwacht, möchte ich eigentlich auspacken und seine Spieldecke in unserem Zimmer ausbreiten. Sein Stück Heimat für unterwegs. Aber irgendetwas lässt mich nicht von meinem gelben Plastikstuhl aufstehen.
Der Aufbruch aus München fühlt sich in der Rückbetrachtung wie ein Befreiungsschlag an: Nichts und niemand ist mehr da, dem ich es meine recht machen zu müssen. Nur Levi und ich. Mein Kopf ist leer, aber aufrecht.
Und jetzt? Die Ungewissheit fühlt sich im Angesicht der Weite und Wildheit des Baikalsees aufregend an. Der Seewind weht mir sanft ins Gesicht, und ich lehne am Balkongeländer wie Vasco da Gama an der Reling seines Schiffes kurz vor Sichtung der indischen Küste. Trotz aller Fremdheit und obwohl wir erst vor ein paar Stunden angekommen sind, fühle ich mich gut aufgehoben. Das raue und gleichzeitig doch liebevoll oder lieblich wirkende Klima des Baikal passt zu meiner Stimmung. Im
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