Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
der schwierigen wirtschaftlichen Lage Russlands besonders Ende des Jahrzehnts habe die Mutter das Angebot eines bessergestellten Russen annehmen müssen und das Haus verkauft. Zunächst habe sie versucht, aus dem Haus eine kleine Pension für Touristen zu machen, aber das sei schwierig gewesen. Und so erfahre ich, dass man damals wie heute zur »Familie der Erfolgreichen« gehören muss, will man unternehmerisch tätig werden oder eigene Ideen umsetzen. Sie selbst habe vor zwei Jahren versucht, als Moskau verkündet hatte, Unternehmertum fördern zu wollen, zusammen mit einer Freundin ein Restaurant zu eröffnen. De facto müssten Menschen, die nicht zur »Familie« gehörten, unendlich viel Papierkram erledigen und für vier Jahre den gesamten Gewinn als Steuer abgeben. Das könne sich niemand leisten. Und somit sei vieles, was der Kreml sage, nur für die Politik und das Ausland bestimmt. Die Menschen hätten nichts davon.
»Und wie geht es euch jetzt?«, frage ich.
»Wir lieben unser Land. Wir lieben den See. Die meisten Menschen sind wunderbar. Wir konzentrieren uns auf unsere Familie. Komm doch heute Abend zum Essen bei uns vorbei. Mein Bruder und seine Kinder sind auch da!«, schlägt die junge Frau vor. »Mein Bruder malt, er zeigt dir gerne seine Bilder. Ich zeige dir Fotos von Bolschije Koty, und du kannst uns erklären, warum du diese Reise machst mit deinem Sohn, ja?«
Mit Sonne im Herzen und Rückenwind stapfe ich mit dem immer noch schlafenden Levi los Richtung Norden. Je weiter ich gehe, desto schneller wird mein Schritt. Der Pfad ist erdig, voller Wurzeln, steigt in Zickzackserpentinen mal mehr, mal weniger steil an und trifft nach einer Stunde auf einen etwas besser sichtbaren Trampelpfad. Unter uns krachen Wellen an das teils steinige, teils felsige, aber immer steil ins Wasser abfallende Ufer des Baikal. Wir laufen vorbei an mit Krüppelbüschen und stacheligen braun-grünen Gräsern überzogenen Wiesen, deren Halme sich sanft im Wind wiegen. Durch Birken und Lärchengruppen, deren teils grüne, teils braun-rote Blätter das Licht der Sonne zu funkelnden Lichtspielen brechen, die meine Nase kitzeln und Levi dazu bringen, seinen Arm auszustrecken, um mit dem Finger die glitzernden Tagessterne zu verfolgen und »Dadadat« zu rufen. Bolschije Koty entwickelt eine Anziehungskraft, die ich körperlich spüre. Ein Kraftort. Bei den Torres del Paine in Patagonien habe ich Ähnliches gespürt, oder in Lo Manthang in Mustang, auf dem Makarot in Tansania, am Jele Dzong in Bhutan entlang des Druk Path, auf dem Reinebryggen auf den Lofoten, aber auch auf der Wiese vor Schloss Elmau in Oberbayern, mit Blick auf den Wetterstein.
»Bolschije Koty, Bolschije Koty«, singe ich Levi vor, und der klatscht dazu in die Hände. Die Luft ist dick von dem angenehm modrigen Geruch herabgefallener Birkenblätter und der harzigen Würze der Lärchen.
So fühlt sich von Menschen unberührte Natur an! Berauscht von diesem Gedanken, tanze ich auf dem schmalen steinigen Pfad und kann gerade noch rechtzeitig vor dem ausgesetzten Stück Weg abbremsen. Ein zwei Meter breites Loch mit ausgefransten Rändern lacht mir entgegen. Rechts davon der felsige Abgrund über tosendem See, links eine geröllige Felsrutsche, die ein Weiterlaufen zu einer Rutschpartie mit ungewissem Ausgang machen würde. Zumindest, wenn man ein Baby mit sich trägt und nicht ganz so beweglich ist. Also setzen wir uns kurz hin, um zu verschnaufen. Dabei fallen mir weiße und graue Wolken am Himmel auf, die immer wilder miteinander tanzen. Auch der Wind weht auf einmal kälter. Der See besitzt eine gräuliche Farbe, und die Wellen krachen noch ein bisschen lauter. Weiter nördlich kämpft sich ein Sonnenstrahl durch das Wolkengemisch und lässt die flatternden Blätter wie Gold schimmern. Da muss Bolschije Koty sein, denke ich sehnsuchtsvoll und füttere den zappelnden Levi. Er will raus aus der Trage, aber die Stelle hier erscheint mir denkbar ungeeignet.
Als ich bei meinen blonden Gastgebern ankomme, finde ich die Frau mit ihren drei Kindern in der Küche und den Mann beim Holzhacken im Garten vor dem Küchenfenster: »Es wird bald kalt«, sagt er entschuldigend.
Ich setze Levi zu dem Vierjährigen auf den Küchenboden und frage die drei eifrig schnibbelnden Frauen nach einem Job für mich. Nachdem ich mehrfach beteuere, dass ich zwar keine Ahnung vom Kochen habe, es aber unbedingt lernen möchte, darf ich helfen: Rote Bete schneiden. Levi lässt sich mit
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