Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
großen Augen das Spielzeug des Vierjährigen vorführen, und ich verfalle mit jeder Minute mehr dem Geruch von seit Stunden in einem schwarzen Emailletopf eindickendem Gemüsefond, brutzelndem Quinoa und Gewürzen, die ich nicht kenne. Die Wände der Wohnküche sind vollgestellt mit Holzregalen, die unter der Flut aus Töpfen, Tellern und Einmachgläsern zusammenzubrechen drohen. An den freien Stellen der mit Holz vertäfelten Wände hängen Bilder: Babykritzeleien, Kinderskizzen, abstrakte Versuche der Teenagertochter und Aquarelle des Künstlerbruders. Draußen wird es dunkel. Kerzen flackern auf grobem Holztisch. Wir schlürfen die dicke Suppe, mit der es der Köchin gelungen ist, den wild-liebevollen Charakter des Baikal einzufangen: intensiv, nahrhaft, speziell, lecker. Levi sitzt auf einem Kissen neben mir und lauscht mit gespitzten Ohren dem lebhaften Gespräch, bis ihm die Augen zufallen. Der Vater schürt das Feuer in einem kleinen gusseisernen Ofen, Levi schlummert trotz des vielen Lachens neben mir auf der Küchenbank, und wir spielen auf besonderen Wunsch der neunjährigen Tania eine Runde »Mensch ärgere dich nicht«.
Als ich gegen Mitternacht bei Vollmond wie auf Watte nach Hause schreite, bin ich mir sicher, ein weiteres Puzzlestück auf dem Weg zu unserem künftigen Leben zu Hause gefunden zu haben. Benennen kann ich es noch nicht. Aber fühlen kann ich es umso intensiver. Es hat etwas mit diesem großen groben Tisch zu tun, um den wir saßen. Und mit der Wohnküche. Dem gemeinsamen Kochen und Spielen. Damit, dass Levi sich selbstverständlich und stolz in eine sich vor seiner Nase formierende Gemeinschaft einfügt. Mitmacht. Es entspannt ihn geradezu, wenn er Teil einer Gruppe ist. Wenn er mal im Mittelpunkt steht und mal auch nicht. Er hat es genossen, einfach dabei zu sein. In dieser Küche war alles und jeder irgendwie richtig. Und gut.
Sibirische Krankenhäuser will man echt nicht von innen sehen
Das Frühstück verlief heute ruhig: Keine Telefonanrufe meines russischen Alter Ego Wladi. Keine Vorschläge von Alexandra Honecker. Nur Levi, das Frühstück, die Küchencrew und ich. Mit einer Tasse Tee und einem Glas Milch sitze ich mit Levi bei immer noch strahlender Sonne auf der lärchenbeplankten Terrasse vor Taras Restaurant. Ich ahne nicht, dass dieser harmlos daherkommende Tag in Kürze unsere gesamte Mission infrage stellen wird.
Eine Schwere, die nicht erdrückt, sondern entspannt, überfällt mich: Heute mal kein Programm, sage ich mit belgischem Akzent zu Levi, der sich im Weltenballspielen ohne Gegner perfektioniert. Irgendwann setzt er sich neben mich, legt seinen Kopf auf meinen Oberschenkel und spielt mit seinen Händen. Die Fliegen surren, ein leichter Seewind weht um unsere Nasen, und eine Katze lässt sich zufrieden schnurrend zu meinen Füßen nieder.
»Was für ein perfekter Tag«, denke ich, als Levis Unterlippe anfängt zu zittern. Sekunden später rollen stumme Krokodilstränen über seine babyspeckigen Wangen. Ich nehme ihn auf den Arm, aber Levi biegt sich mit seinem Rücken von mir weg und hält mir seine kleinen Hände unter die Nase. Und da sehe ich sie: geschätzte dreißig Splitter. Sie stecken in Levis Handflächen, manche auf den ersten Blick ein bis zwei Zentimeter lang, zum Teil oberflächlich, zum Teil tiefer in seine weiche rosige Haut gedrückt. Auch mir schießen Tränen in die Augen, und Levi fängt laut an zu weinen. Also reiße ich mich zusammen, zücke eine Pinzette und mache mich an die Arbeit. Levi dreht und windet sich mit einer Kraft, gegen die unsere täglichen Kämpfe beim Windelnwechseln lächerlich erscheinen. Und selbst die gewinne ich nicht immer. Also schnalle ich ihn im Maxi-Cosi fest, streife mein dickes Seelenfell über und operiere weiter. Die größten drei Splitter schaffe ich, für alles Weitere ist die Pinzette zu stumpf, Levi zu stark und meine Seele zu schwach.
Tara kann weder einen Kinderarzt noch eine Apotheke empfehlen, und so steigen wir fünf Minuten später in Begleitung der asiatischen Küchenhilfe in ein Taxi auf dem Weg zum Krankenhaus von Listwjanka. Levi wimmert tapfer vor sich hin, und ich versuche, ihn mit Küssen und einer kleinen Geschichte zu beruhigen. Zehn Minuten später bleibt das Taxi vor der halb verfallenen Lagerhalle von gestern stehen. »Hospital?« , frage ich die Asiatin. »Dada« , antwortet diese. »Sure?« , frage ich und kann meine Tränen gerade noch zurückhalten. Aber nur, weil ich für Levi stark
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