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Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)

Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)

Titel: Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Malchow
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Stunden.
    Ich fühle mich wie eine Kinderquälerin.
    Mann, dass derart harmlos daherkommende Splitter das Ende unserer Mission bedeuten können, hätte ich wirklich nicht gedacht. War ich doch naiv, als ich den Entschluss fasste, mit Levi zu dieser Reise aufzubrechen?
    Mir wird flau im Magen. Neinneinnein, denke ich. Derart blöde Holzsplitter bringen sie nicht zurück. Die Stimmen. Die Zweifel. Die Unsicherheit.
    Um Levi von seinen geliebten Wellen abzulenken, greife ich zum Äußersten und gebe ihm mit zitternder Hand mein iPhone. Sofort drückt er den richtigen Knopf, schiebt nach einigen Versuchen erfolgreich die Entsperrung zur Seite und patscht mit ernster Miene auf den verschiedenen Kacheln herum.
    Mantramäßig stelle ich mir dieselbe Frage: Macht die Reise Sinn, wenn Levi nicht krabbeln darf?
    »Natürlich nicht!«, sage ich zu Levi, dem überrascht von meiner plötzlichen Ansprache das iPhone aus dem Mund fällt.
    Die Frage ist, wie lange es dauert, bis die letzten Splitter aus der Hand draußen und die Wunden verheilt sind. Drei, vier Tage vielleicht?
    Ich rufe Alexandra an und frage nach der ärztlichen Versorgung in Bolschije Koty.
    »Die haben dort einen Schamanen«, dröhnt es mir entgegen.
    »Na super.« Also: Nichts gegen Schamanen, ich würde ein derartiges Ritual gerne mal ausprobieren, aber nicht wenn es um das Wohl meines zehn Monate alten Sohnes geht. Also: zur Not schon. Bei freier Wahl nicht.
    Und die habe ich ja noch.
    Grübelnd machen wir uns auf den Weg. Wohin, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich so einen Grund habe, Levi in die Babytrage zu stopfen. Unterwegs rufe ich Markus an, um von unserem Unfall zu berichten und ihn in meine Ratlosigkeit mit einzubeziehen. Aber unsere Kommunikation ist gestört: Er hört mich. Aber ich höre ihn nicht. Levis Sabber hat die Hörfunktion für unbestimmte Zeit lahmgelegt. Na toll: Markus erfährt alles, und ich bekomme nichts: keinen Trost, keinen Ratschlag, nichts. Mal gespannt, wie lange es dauert, bis der letzte Speicheltropfen durch die schicke Technik durchgetropft ist. Billigteil.
    Ich monologisiere: darüber, dass ich plötzlich Angst habe vor Bolschije Koty. Die romantisch-abenteuerliche Abgeschiedenheit hat etwas Bedrohliches bekommen. Eigentlich hat sich Bolschije Koty ja nicht verändert. Ich hatte das Bedrohliche nur nicht gesehen. Oder sehe ich jetzt etwas, das es nicht gibt? Aus Panik? In meinen Reisen ohne Levi hatten Splitter bisher keine große Rolle gespielt. Was vielleicht leichtfertig war, wenn man an Hemingways Schnee auf dem Kilimandscharo denkt. Aber gut. Das Telefonat entwickelt sich aufgrund Markus’ fehlender Kommentare zum perfekten Selbstgespräch: Ich erinnere mich daran, dass Levis Krabbeln bisher ein Schlüssel zu echten Begegnungen in der Transsib und hier am Baikal war. Und eine wesentliche Möglichkeit für mich, auch mal ein klein wenig Distanz zu Levi zu bekommen auf dieser Reise, bei der wir bisher jede Nacht Nase an Nase verbracht haben. Und dass ein Wechselspiel aus Nähe und Distanz in Beziehungen für mich wichtig ist. Scheinbar selbst in der Beziehung zu Levi. Eine »Wir verbringen jede Minute miteinander«-Beziehung ist ein Gefängnis für mich. Durch seine Krabbelei gibt Levi mir die Chance, mich frei zu fühlen, auch mit ihm. Er gibt mir die Chance, ihn zu vermissen, wenn er in den Küchen dieser Welt verschwindet. Durch seine Krabbelei erinnert er mich daran, dass er sich jeden Tag mehr von mir entfernen wird und ich die Nähe, die er mir schenkt, besser genieße.
    »Bist du noch da?«, frage ich leise.
    Keine Antwort.
    »Schick mir doch eine SMS , wie du die Sache siehst. Ich möchte Levi nicht gefährden.«
    Heute relaxen, morgen entscheiden
    Eine Deutsche bittet mich auf Englisch, ein Foto von ihr vor der Hafenkulisse zu machen. Da sie so quadratisch, praktisch, gut wirkt mit ihren gebügelten olivgrünen Trekkinghosen und den wachen braunen Knopfaugen hinter ovalgoldenem Brillengestell und irgendwie nach Kindererfahrung aussieht, frage ich sie um Rat.
    »Seifenlauge«, sagt sie. »Damit kommt alles raus!«
    Wie Seifenlauge? So einfach soll das sein?
    Ich glaube ihr kein Wort, beschließe aber, es auszuprobieren. Wir verabschieden uns von der Frau, die wirklich alles gegeben hat, um mich zu beruhigen, und ich stelle fest, dass wir direkt gegenüber dem Hotel Mayak stehen, dem besten Haus am Platz.
    In brenzligen Situationen helfen eine kleine Auszeit und ein bisschen Verwöhnen, also treten wir

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