Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
es ein Leben, das sowohl mir als auch Levi gerecht wird, ohne total zu erschöpfen?
Levi ist ja kein strenger Chef, der mir keinen Entscheidungsspielraum zubilligt. Er ist einfach da und mehr als bereit, sich von mir inspirieren zu lassen. Muss ich noch kreativer sein?
Oder ist es eine Frage des Kopfes? Der Einstellung?
Ich schaue auf mein iPhone: 21.49 Uhr. Es ist wirklich lange her, dass ich Nachteule mal vor 22 Uhr im Bett war, denke ich und versuche zu schlafen.
Doch ein Gedanke hält mich wach: Ich gehe mit Levi gleichberechtigt um. Die »Ich bin der Chef, und du machst, was ich sage«-Keule zu schwingen wäre vordergründig oft leichter, macht mir aber keinen Spaß. Außerdem würde Levi mit Wutausbrüchen kontern. Was noch weniger Spaß macht und keinem von uns guttut. Und das will ich nicht. Ein Beispiel: Natürlich hätte ich Levi am Strand, als er sich zum wiederholten Mal Steine in den Mund gesteckt hat, sagen können: Steine werden nicht in den Mund gesteckt. Stopp. Habe ich auch einmal gemacht. Aber dann ging es weiter: Natürlich hörte er nicht damit auf. Er lachte, beobachtete mich und steckte sich wieder einen Stein in den Mund. Ich lachte zurück und sagte erneut: Steine nicht essen. Disziplinjunkies hätten dann vermutlich mit fester Stimme und ernstem Gesicht gesagt: Wenn du nicht aufhörst, Steine zu essen, dann müssen wir den Strand verlassen. Oder hätten dem Kind böse schauend den Stein aus der Hand gerissen und »Bäh!« gerufen. Das wollte ich aber nicht. Und Levi auch nicht, denn am Wasser sitzen, Steine werfen und Möwen beobachten macht ja Spaß. Also was tun?
Levi ablenken, davon überzeugen, dass es viel spannendere Dinge gibt, als Steine zu essen. Zum Beispiel?
Hmmmm.
Ja genau, zum Beispiel Steine werfen. Oder aus Reiseführerseiten von Orten, zu denen wir eh nicht reisen, Schiffe bauen und die in See stechen lassen. Oder auf die Möwen zeigen und spannende Geschichten erzählen, wo die Möwen überall hinfliegen und was die dort sehen. Und ihm zeigen, wie viel Spaß es macht, einen Stein wieder auszuspucken. Also steckte ich mir einen Stein in den Mund, lachte, machte den Mund ganz weit auf und sagte »Aaaaaa« wie beim Zahnarzt und ließ den Stein herauskullern. Und lachte dabei. Und Levi machte es mir nach. Und widmete sich dann den Papierschiffchen.
Puh.
Es ist 23.03 Uhr.
Meine Güte, gar nicht so leicht, mich und Levi im selben Leben ernst zu nehmen.
Sibirisches Unternehmertum
Wir haben wirklich Glück, denn die Sonne scheint schon wieder. Erst ab übermorgen kündigt der Wetterbericht einen Temperatursturz auf acht Grad plus und Regen an. Aber was kümmert mich heute übermorgen? Und wie sicher sind schon Wettervorhersagen. Genüsslich knabbere ich an einem kleinen süßen verschrumpelten Apfel. Levi ist vor Minuten schon in der Küche verschwunden. Ich höre das Hoteltelefon klingeln und wenige Augenblicke später den morgendlichen Appell: »Julia, telephone!«
Wer das heute wohl ist?
»Wo warst du gestern, wir haben auf dich gewartet!«
Instinktiv halte ich den Hörer 30 Zentimeter von meinem Ohr weg.
Alexandra. Sie ist not amused . Offensichtlich hat sie meine höfliche Absage gestern als definitive Zusage missverstanden.
Ich habe keine Lust auf Diskussionen und schiebe alles auf Levi: »Mit Baby dauert alles länger, wir haben es einfach nicht rechtzeitig geschafft. Entschuldige.«
»Die ganze Gruppe hat auf dich gewartet. Vor dem Museum!«
»Tut mir leid, Alexandra.«
»Wann willst du denn jetzt das Museum sehen.«
»Gar nicht, das ist nichts für Levi.«
»Heute Nachmittag bin ich im Freilichtmuseum, 20 Kilometer Richtung Irkutsk. Ich hole dich um 13 Uhr ab, einverstanden?«
»Nein, Alexandra, wir haben andere Pläne, aber danke.«
»Was macht ihr denn?«
»Ums Kap wandern, Richtung Bolschije Koty.«
»So schnell bekomme ich keinen Führer für euch organisiert!«
»Das passt schon, Alexandra. Levi und ich gehen alleine.«
»Da fährst du doch eh mit dem Boot hin.«
»Ja, aber irgendwie zieht es mich heute schon in die Richtung. Ein Vorgeschmack auf echte Abgeschiedenheit. Wildheit der Natur! Keine Menschen!«
»Viel Spaß und eine gute Reise noch!«, sagt Alexandra und legt auf.
Mann, an diesen emotionsfreien Soldatenton kann ich mich wirklich nicht gewöhnen. Ob das daran liegt, dass Alexandra Deutsch in der ehemaligen DDR gelernt hat? Oder daran, dass Alexandras Hauptaufgabe darin besteht, bei den üblicherweise von ihr betreuten
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