Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
sein will. Die Asiatin spricht mit dem Taxifahrer und sagt dann: »Da.« Der Taxifahrer verspricht zu warten, und wir laufen über den mit Moos bewachsenen Hof, öffnen eine rostige quietschende Tür und stehen in einem schwach beleuchteten Linoleumflur mit Zeichnungen von Pflanzen und Kräutern aus der Region an den Wänden. Die Luft ist abgestanden, und es riecht nach ökologisch nicht korrektem Putzmittel. Ich fühle mich in einen Kriegsfilm hineinversetzt, Schlüsselszene Notlazarett, kurz bevor der Hauptdarsteller den Heldentod stirbt, und sofort fließen bei Levi wieder die stummen Tränen. Die sechzigjährige Ärztin mit dicker Brille und geflochtenem grauen Zopf bis zum Po gibt sich ernst und winkt uns in ihr Behandlungszimmer – Linoleum, eine ursprünglich mal weiße Metallliege, von der die Farbe abblättert, ein zahnsteinweißer Monitor mit flimmernd grünen Buchstaben auf schwarzem Bildschirm und ein zerbeultes weißes Medizinschränkchen. Sie zückt eine Nadel, durch die eine halb blinde Oma einen Faden fädeln könnte, hätte sie ein Öhr. »Flucht«, melden meine Beine, und mein Hirn versucht krampfhaft, einen Plan B zu entwerfen.
Leider fällt mir auf die Schnelle nichts ein.
Also zwinge ich mich zu bleiben, und lächle Levi an. Der ahnt noch nicht, was ihm bevorsteht, und lächelt seinerseits die alte Dame fröhlich an. Aber nur kurz: Die ersten zwanzig Sekunden erträgt Levi heroisch, dann schaltet er eine Sirene aus Verzweiflung und Schmerz an, die auch mich binnen Sekunden zum Heulen bringt. Blut tropft, Levi windet sich, und erst zwei Splitter sind geschafft. Damit verbleiben immer noch geschätzte 25 in den zwei Händen. Es ist entsetzlich, Levi gegen seinen vollen körperlichen Einsatz auf die Liege zu pressen, also bitte ich um eine Pause, nehme meinen zitternden Sohn auf den Arm, trockne unsere Tränen und suche nach Worten, die einen schnellstmöglichen Rückzug möglich machen. Die Ärztin hat jedoch auch nonverbal begriffen, dass ihre Mission zum Scheitern verurteilt ist, und erklärt mit ruhiger tiefer Stimme, dass die verbleibenden Splitter klein seien und nicht tief säßen und somit von allein herauskommen würden. Zumindest interpretiere ich die Bewegung, mit der ihre rechte über ihre linke Hand streicht, begleitet von einem Lächeln, dahingehend. Und dass malinki irgendetwas mit »klein« zu tun hat, habe ich mittlerweile begriffen. »Super«, denke ich und: »Tschüss!« und bleibe dann doch kurz im Raum stehen: Behauptet die Ärztin das nur, um die morschen Krankenhausmauern vor dem Zusammenbruch durch Levis Gebrüll zu bewahren? Oder erträgt sie es einfach nicht mehr: den brüllenden Powerzwerg und die schluchzende Mama? Oder weiß sie, dass sie nicht das geeignete Werkzeug hat? Oder hat sie vielleicht einfach recht?
Egal, ich will raus. Zeit gewinnen. Die Ärztin wickelt Mullverband um Levis geschundene Hände. Geld möchte sie nicht. Der besorgte Taxifahrer setzt uns mit besten Genesungswünschen an unserem lieb gewonnenen sibirischen Strandkorb ab. Die Asiatin weigert sich standhaft, Trinkgeld für ihren Begleitschutz anzunehmen, und fragt, ob sie noch irgendetwas für uns tun könne.
Am Strand klammert Levi sich an meine Hüften und schluchzt ein wenig. Dann beobachtet er den See, fängt sich und möchte loskrabbeln. Vor zu den Wellen. An seinem Bauch halte ich Levi kurz über dem steinig-sandigen Strand. Er rudert voller Vorfreude mit den Armen und zappelt mit den Beinen, als ein Wort durch mein Gehirn blitzt: Blutvergiftung!
Levis Hände sind übersät mit kleinen Wunden: einige von einer Blutkruste brüchig verschlossen, andere feucht von nässender Wundflüssigkeit.
Macht die Reise noch Sinn, wenn Levi nicht krabbeln darf?
Ich bin kein Freund davon, Levi im Kinderwagen ruhigzustellen und ihn so aufs Schauen zu beschränken. Unsere Reise lebt davon, dass Levi sich frei bewegen kann. In Küchen und Abteile hineinkrabbelt. Am Strand jeden Stein umdreht. Sich schmutzig macht.
Was mache ich, wenn sich im abgeschiedenen Bolschije Koty Levis Hände entzünden? 20 Kilometer nach Listwjanka wandern ist dann sicher keine Lösung. Ob ich auf die Schnelle ein Boot organisiert bekomme? Und dann? Das Krankenhaus von Listwjanka schien mir auch nicht der geeignete Ort für eine Notoperation. Also: Anderthalb Stunden Bootsfahrt plus die Zeit, die es dauert, ein Boot zu organisieren, plus eine Stunde nach Irkutsk, Flug nach Moskau, Flug nach Hause, macht mindestens zehn
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