Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
Touristengruppen mehr auf das Einhalten des Reiseplanes zu achten als auf das Wohlbefinden jedes Einzelnen? Abmarsch zum Freilichtmuseum in zwölf Minuten. Keine Widerrede, hopp hopp. Wer tut sich so was freiwillig an?
Levi bemerkt die Wolken vor meiner Stirn, und seine Unterlippe fängt an zu zittern. Also schiebe ich meinen Anflug von Genervtsein beiseite, packe Essen und Levis Bekleidung für alle denkbaren Wetterwechsel in meinen Rucksack, binde mir Levi in der Trage vor den Bauch, hänge die Kamera um den Hals und stapfe los Richtung Kap: vorbei an Holzhäusern und Chalets, an dem Plattenbau und dem Markt. Wir queren eine kleine Brücke, laufen eine weit geschwungene Linkskurve und passieren ein Gebäude, das aussieht wie eine halb verfallene Lagerhalle. Die Straße ist nun nicht mehr geteert und nur auf der linken Seite von alten Holzhäusern gesäumt. Vor jedem zweiten Gartenzaun steht eine Räucherblechbüchse mit Omul auf dem nicht vorhandenen Gehweg. Katzen sitzen mit aufmerksamen Augen davor, greifen aber nicht zu. Einige Katzen humpeln. Vermutlich die, die es mal versucht haben.
Die letzten Häuser liegen hinter uns, als in einer lang geschwungenen Rechtskurve ein junges blondes Paar auftaucht. Eng umschlungen stehen sie auf dem sandigen Weg und küssen sich. Teenager, die den Augen ihrer strengen Eltern entkommen wollen, denke ich, als ein vierjähriger blonder Junge um die Kurve biegt und bei dem Paar stehen bleibt. Die Frau nimmt ihn auf den Arm. Die bekommen aber jung Kinder, denke ich und korrigiere meine anfängliche Altersschätzung von fünfzehn Jahren auf Anfang zwanzig. Kaum ist der Gedanke gedacht, biegt ein neunjähriges strohblondes Mädchen um die Kurve, und bevor ich meine Altersschätzung erneut korrigieren kann, gesellt sich noch ein wirklicher Teenager, ein Mädchen so um die dreizehn, dazu. Sie baut sich lachend vor ihren Eltern auf, hebt eine Hand vor ihr Gesicht und küsst den imaginären Partner. Die Mutter schlägt lachend nach der Tochter, und der Vater läuft dem daraufhin flüchtenden Teenager Haken schlagend hinterher. Die bekommen wirklich früh Kinder hier, denke ich und frage die lachende Menge strohblonder Russen nach dem Weg nach Bolschije Koty.
»Hier ist das Observatorium«, erfahre ich. »Der Weg nach Bolschije Koty beginnt hinter der Brücke rechts«, erklärt die Familie aus Listwjanka in gut verständlichem Englisch.
»Da wohne ich doch, bei Tara.«
»Dada« , sagt das Teenagermädchen.
»Ich möchte an der Küste entlanglaufen, nur ein bisschen, ich fahre später mit dem Boot nach Bolschije Koty«, erkläre ich.
Die Familie beratschlagt sich kurz, dann nimmt mich die Neunjährige an der Hand, und gemeinsam laufen wir den Weg zurück bis kurz vor die halb verfallene Halle. Dort zerrt Tania mich unter den neugierigen Blicken Levis links über einen überwucherten alten Hof bis hin zu einer kleinen Birkenlichtung und biegt erneut links ab. Wir laufen einige Meter über wegloses grasiges Gelände, bis aus dem Nichts ein kleiner Trampelpfad sichtbar wird, der sich, so weit meine Augen reichen, die Küste Richtung Norden entlangschlängelt. Ich drehe mich um und präge mir das Bild ein: die Birkenlichtung, die Halle dahinter, links unten am Ufer gelbe Gebäude mit blauen Flachdächern, rechts oberhalb von uns ein dreistöckiger Backsteinbau. Damit ich den Ort wiederfinde, wenn wir zurückkommen. »Mach doch ein Foto«, gestikuliert die Neunjährige und bringt sich in Positur: linke Hand in die Hüfte, mit der rechten Hand die Haare zurechtgewuschelt und dann in die Luft gereckt, rechtes Knie eingeknickt, Hintern rausgestreckt, breites Lachen im Gesicht. Fotomodellhafte Posen einzunehmen scheint den Russinnen in die Wiege gelegt. Oder überlebensnotwendig?
Levi gähnt, und so begleiten mich das Mädchen und ihre Familie ein Stück bis zu ihrer Lieblingsaussichtsstelle. Dort setzen wir uns hin, und Levi fällt in einen tiefen Schlaf. Ich erfahre, dass der Mann dreißig ist und eigentlich promovierter Literaturwissenschaftler. Da er keinen Job in Irkutsk finden konnte, seien sie vor einigen Jahren nach Listwjanka gezogen. Die Gegend werde wirtschaftlich gefördert, und der Tourismus hier sei ein halbwegs sicheres Geschäft. Er arbeitet auf einem der Touristenboote. Seine Frau, die Chemie studiert hat, arbeitet in einem der Hotels. Früher hätten ihre Eltern ein Ferienhäuschen in Bolschije Koty besessen, aber in den Neunzigern sei ihr Vater gestorben, und aufgrund
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