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Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)

Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)

Titel: Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Malchow
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diesem schönen, aber anonymen Hotel werden wir bestimmt auch niemanden kennenlernen. Irgendwie auch okay, ich bin noch ganz voll Bolschije Koty. Auf der anderen Seite könnte ich ein wenig Unterstützung gebrauchen, denn: Ich bin krank. Richtig erkältet: Nase zu, Kopf dröhnt, Augen tränen, Beine wackelig. Bei allen Horrorszenarien, die ich mir vor der Abreise ausgemalt hatte, um für den Fall der Fälle eine Lösung zu haben: Daran hatte ich nicht gedacht. Nicht im Ansatz: dass mir etwas passieren könnte. Oder eine Vorstufe davon: dass es mir schlecht gehen könnte.
    Zu allem Überfluss erhalte ich E-Mails aus meinem Büro, die mir zeigen, dass meine Führung doch nicht so einfach durch Delegieren und To-do-Listen ersetzbar ist. Zwischen Ballwerfen und Zeitungrascheln, um Levi zu beschäftigen, versuche ich, das Nötigste zu erledigen.
    Dann schleppe ich uns in eine Apotheke. Ich bekomme drei Päckchen und zu jedem Päckchen den handschriftlichen Vermerk einer täglichen Dosis. In der Hoffnung, mit meiner Zeichensprache nicht völlig missverstanden worden zu sein, stopfe ich die doppelte empfohlene Tagesdosis in mich hinein.
    Entweder bin ich morgen tot oder gesund.
    Zum Glück hat Levi sich bisher nicht angesteckt. Vielleicht sollte ich nicht nur bei ihm auf warme Kleidung achten?
    Außerdem fühle ich mich allein: so ohne Natascha, Nadia, Olga, Markus. Ich will weiter. Wieder los. Ich kann es kaum erwarten, heute Nacht gegen vier Uhr endlich wieder in die Transsibirische Eisenbahn einzusteigen.
    Plötzlich fällt mir ein, was ein Freund mal zu mir gesagt hat und was mich schon oft gerettet hat: »Musik hilft immer. Und tanzen.«
    Der Satellitenfernseher kennt die britische Version von MTV und versorgt uns mit den neuesten dance tunes von der Insel. Wir hüpfen singend durch unser Zimmer, und in den Pausen lade ich die schönsten Tracks für die Weiterreise auf mein iPhone. WLAN sei Dank.
    Es geht auf halb zehn Uhr zu, und Levi zeigt noch keine Spur von Müdigkeit. Dafür zeigen sich unter meinen Augen schwarze Ringe. Meine Versuche, ihn trotzdem hinzulegen, kontert er mit lautem Protest, stehaufmännchenhaftem Sitzen und Lachen. Er ist unruhiger als sonst. Fast zappelig. Ich denke, dass er das Reisen, den Ortswechsel verarbeitet. Ich kann es nachfühlen. Auch ich vermisse die letzten Tage in Bolschije Koty. Und unsere Familie in der Transsib.
    Ich sitze mit meinem Sohn auf dem Bett und schaue ihn an. Wie er unermüdlich an der Decke herumfummelt. Nach den Streichhölzern auf dem Nachttisch greift. Versucht mein iPhone zu ergattern. Sich vom Bett abseilt, um in den Mülleimer zu tauchen und zerknülltes Papier zu finden. In den russischen Zeitschriften blättert und voller Begeisterung die Seiten herausreißt. Und plötzlich merke ich, dass ich unendlich müde bin. Dass ich kaum noch Kraft habe, hinter meinem Sohn herzurennen, damit er sich nicht den Kopf irgendwo anstößt oder etwas isst, was er nicht essen sollte.
    Je mehr meine Kräfte schwinden, desto mehr dreht Levi auf. Als wolle er unser Energielevel auf einem bestimmten Niveau halten.
    Ich fühle mich einsam. Müde. Kraftlos. Ich kann nicht mehr. Wie machen Alleinerziehende das? Wenn sie krank sind? Und keine Eltern oder Freunde mit Kindern um die Ecke wohnen haben, die ihnen helfen? Und sich keinen Babysitter leisten können? Muss ja gar nicht wirklich alleinerziehend sein; die meisten Frauen in Deutschland sind ja de facto alleinerziehend: Mann im Job, Frau ohne Unterstützung das erste Jahr zu Hause. Ist zumindest mein Eindruck.
    Nicht, dass ich meine selbst gewählte Situation in Irkutsk mit der Situation Alleinerziehender, eventuell noch finanziell schlechtgestellter Alleinerziehender, vergleichen möchte. Ich kann die Reise ja jederzeit abbrechen. Will ich aber nicht. Es ist so bereichernd und intensiv, mit Levi zu reisen. Er lässt sich so selbstverständlich auf alles ein. Ich bin ganz stolz auf ihn.
    Nur gerade jetzt, in diesem Augenblick, bin ich total am Ende. Kann es nicht bitte ganz schnell morgen sein?
    Es ist 22 Uhr. Der Wecker klingelt um 3.15 Uhr. Um 3.45 Uhr werden wir abgeholt und zum Bahnhof gebracht. Ich muss noch packen, hätte gerne eine halbe Stunde für mich und ein bisschen Schlaf. Levi rennt durch den Raum, und ich spüre Wut in mir aufsteigen. Er torkelt zwar schon und kann seinen Kopf kaum noch aufrecht halten, aber schlafen: Neinneinnein!
    Ich packe ihn, setze ihn in den Kinderwagen und rolle Kinderlieder singend im Zimmer

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