Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
auf und ab. Innerlich zittere ich. Äußerlich versuche ich, mir nichts anmerken zu lassen. Wut, Verzweiflung, Erschöpfung und ein dröhnender Kopf ergeben eine explosive Mischung.
Kinder leben manchmal wirklich auf einem Pulverfass. Ich weiß, dass ich mich gegenüber Levi im Griff habe. Ich werde nicht brüllen oder Schlimmeres tun. Dennoch steigen in meinem Kopf derartige Szenarien auf. Und dafür hasse ich mich. Was die Situation nicht unbedingt einfacher macht.
Was ist mit Menschen, die zu viel Alkohol trinken, Drogen nehmen, echte Probleme haben? Wie überleben die Kinder das? Derartige Menschen können sich doch gar nicht im Griff haben? Gut, die reisen auch nicht durch Sibirien, aber trotzdem: Kind zu sein erfordert ganz schön viel Mut. Zum Glück verstehen die Kinder das erst, wenn sie aus der größten Gefahr heraus sind.
Da alle Lieder versagen, beginne ich eine Rede zu halten: darüber, wie es mir gerade geht und dass es nun wirklich an der Zeit ist zu schlafen. Und Levi lacht. Mit seinem breitesten strahlendsten Lächeln.
Ich könnte heulen. Gedanklich schicke ich ihn zurück in die Baby-Ursuppe. One-way ticket . Und da macht es klick bei mir: Er ist so unruhig wie ich. Er ist so traurig wie ich. Und vermutlich will auch er hier möglichst schnell weg, so wie ich. Nur weiß er nicht, dass es in vier Stunden schon so weit ist.
Also legen wir uns auf das Bett und schauen uns die Fotos der Reise auf meinem Laptop an. Mehrmals. Am Anfang turnt Levi noch um mich herum. Dann setzt er sich hin. Und irgendwann liegt er und schläft.
Das war knapp.
4
VON IRKUTSK NACH ULAN-BATOR IN DER MONGOLEI – TOD UND ERWARTUNG
Anfängerfehler
Katia hat es mit einem Lächeln auf den Lippen geschafft. Sie lotste uns um 3.50 Uhr in der Nacht vorbei an der betrunkenen, Klavier spielenden, tanzenden und lachenden Partymeute in der Lobbybar des Hotel Sayen . Vorbei an den ebenfalls betrunkenen, ihre Dienste anbietenden Laienträgern am Bahnhof. Vorbei an den johlenden jungen, vorwiegend männlichen Backpackern, die an den Fenstern des Zuges hingen, der aus Krasnojarsk kam und nun vierzig Minuten Verschnaufpause in Irkutsk hatte, bevor es Richtung Mongolei weiterging. Sie hielten Ausschau nach neuen partywilligen weiblichen Backpackern. Sicher nicht nach einer Mama mit Baby. Zum Glück.
Katia nahm auch die Hürde des skeptisch dreinblickenden mongolischen Waggonschaffners, auf dessen Zettel unsere Namen standen, und schaffte es, ihm zu erklären, dass wir zwar nur eine zahlungspflichtige Person sind, aber dennoch vier Tickets gekauft haben.
Und jetzt sitze ich hier. Im Dunkeln. In unserem Abteil. In einem sehr einfachen, schmuddeligen, leicht übel riechenden Zug. Für die nächsten 26 Stunden. Na denn mal Prost. Leider habe ich das Bier aus der Minibar des Hotels nicht eingesteckt. Anfängerfehler. Passiert mir nie wieder!
Levi schläft, und ich schaue aus dem Fenster. Ich sehe Katia im Bahnhofsgebäude verschwinden. Vermutlich hüpft sie jetzt zu ihren feiernden Freunden in irgendeine Hotellobby.
Obwohl ich nur noch ihren Rücken sehe, hat sich ihr Gesicht in meine Erinnerung eingebrannt. Ein bisschen wie Olgas Gesicht: mongolische Züge mit grünen Augen und blonden Haaren. Dazu mindestens 180 Zentimeter groß und ein freundlich-herausforderndes Lächeln auf den Lippen. Katia war richtig schön. Und nicht nur das. Sie wirkte auch interessant. Nicht niedlich schön. Sondern schön wie ein Mensch, der viel zu erzählen hat. Dabei war sie höchstens zwanzig. Wenn überhaupt.
Lange Jahre verbannte Moskau unliebsame Menschen nach Sibirien: Wolgadeutsche, Tschetschenen aus dem Kaukasus und Letten aus dem Baltikum. Und die trafen dort auf Nomaden, Burjaten und Mongolen. Im Ergebnis entstand nicht nur ein zäher, tougher, sondern auch sehr schöner Völkermix. Irgendwo hatte ich gelesen, dass nicht die riesigen Vorräte an Erdöl, Diamanten und Kohle die wahren Schätze Sibiriens seien, sondern die Menschen. Die Schönheit und der Ehrgeiz der Frauen. Und dass sich zunehmend Modelscouts der Transsibirischen Eisenbahn bedienen, auf der Suche nach jungen Talenten. Was wiederum erklärt, warum selbst die kleinsten Mädchen schon besser posieren als die meisten Kandidatinnen der zahlreich vorhandenen Modelcastingsendungen im deutschen Fernsehen: Das Posieren ist ihr Rettungsboot. Es soll sie wegtragen in ein besseres Leben.
Aber offensichtlich gelingt es nicht jeder schönen Frau, Sibirien hinter sich zu lassen. Vielleicht
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