Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
halbe Stunde ununterbrochen galoppieren!«
Dann dreht sie sich zu Markus und mir und sagt: » You are brave people, you know. Such a small baby!«
Ihrem Zungenschlag kann ich nicht die Natur des brave entnehmen: positiv, neutral oder verrückt mutig? Ich nicke und lache. So groß die interkulturellen Unterschiede auch sein mögen, in der Beurteilung unserer Reise sind sie außer Kraft gesetzt – unabhängig von Nationalität, Alter oder Geschlecht, die Welt ist sich einig: Wir sind mutig! Nur hinsichtlich der Bewertung des Mutes existieren zuweilen erhebliche Unterschiede. Neugierig mustere ich die philippinische Frau, um aus ihren asiatischen Gesichtszügen eine wertende Regung herauszulesen, aber es gelingt mir nicht. Während ich schweige, geht die lebhafte Diskussion am Nebentisch wieder zu anderen Themen über, und so mustere ich den Mann, auf dessen Schoß Levi sitzt. Seine großen runden warmen Augen wollen so gar nicht zu dem Rest seiner asiatischen Erscheinung passen. Seine Statur und Ausstrahlung erinnert mich an den spanischen Schauspieler Javier Bardem. Auf jeden Fall eher spanisch oder südamerikanisch als asiatisch.
Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagt er zu mir: »Hi, I am Carlos!«
Levi will seine Freiheit zurück und dreht eine Runde durch das Restaurant. Bei jedem Tisch macht er halt, zieht sich an einem Tischbein in den Stand und führt wahlweise ein kurzes Gespräch oder begnügt sich mit intensiver Beobachtung seines jeweiligen Gegenübers.
Carlos ist, wie ich, Reiseunternehmer. »Manila ist nicht so schön«, erzählt er. »Aber nach Boracay müsst ihr unbedingt!« Er reicht mir seine Visitenkarte. »Ich werde euch Hotels und Inseln empfehlen, wenn ihr mit Levi mal auf die Philippinen kommt. Und Borneo müsst ihr euch anschauen. Beautiful!! «
Ich hole Levi an den Tisch zurück, aber er will nicht. Krabbelt stattdessen in die Küche und bleibt für einige Minuten verschollen. Als er wiederauftaucht, zieht er sich an Carlos’ Stuhlbein hoch und verkrallt seine Hände in dessen Beinen. Jede Faser seines kleinen Körpers ist angespannt. Mit großen Augen mustert er die Familie aus Manila.
Carlos hat spanisches Blut in seinen Adern. Sein Ururgroßvater war Seemann. Aus Cádiz.
Die Frau, die uns vor einer halben Stunde noch neutral Mut bescheinigt hatte, beobachtet Levi mit einem wachsenden Lächeln im Gesicht. Sie breitet die Arme aus und lädt Levi ein, zu ihr zu kommen. Aber er will nicht. Sie gibt sich Mühe, gurrt und lacht. Levi wird neugierig, sie greift nach ihm, er krabbelt laut schimpfend davon, um schnell wieder beizudrehen und sich neben Carlos niederzulassen.
»His eyes are so sparkling« , sagt die Frau, die sich als Carlos’ Schwägerin entpuppt. Dazu bewegt sie ihre Hand von der geschlossenen Faust zur weit geöffneten Handfläche. Begleitet von einem zischenden Geräusch. Auch ihre Augen leuchten. Herausfordernd schaut sie mich an und erklärt mit feierlicher Miene und einem Tonfall, der keinen Widerspruch zu dulden bereit ist: »He’s not a rabbit, he’s a tiger!«
Die anderen spanisch-philippinischen Familienmitglieder nicken bestätigend. Kurz nach Levis Geburt ging das chinesische Jahr des Tigers zu Ende und wurde vom Jahr des Hasen abgelöst. Tiger seien mutig, kraftvoll, kreativ und neugierig, während Hasen eher leise Persönlichkeiten mit politischen Fähigkeiten seien.
Dann ist ja alles gut!, denke ich und bin stolz auf meinen Sohn. Einem Tiger können die Herausforderungen unserer Reise sicher nichts anhaben. Im Gegenteil.
Dass unsere Reise Markus und mich bald der Prüfung unterziehen würde, ob wir unseren kleinen verspielten mutigen Tiger auch beschützen können – davon ahnten wir am Ende dieses wunderbaren Abends noch nichts.
Levi friert
Was ist das für ein Geräusch? Mäuse vielleicht?
Es ist stockdunkel in unserer Jurte. Keine Sterne zu sehen – jemand muss die Dachluke geschlossen haben. Ob es regnet? Ich greife nach meiner Stirnlampe. Und blicke in braune Knopfaugen: nicht die von Mäusen, sondern Levis. Dazu dreht er seinen Körper in eigenartig wirkenden Bewegungen hin und her. Ich spüre sofort: Hier stimmt was nicht.
Ich setze mich auf, und dabei merke ich es. Es ist bitterkalt. Also: Kalt war es jede Nacht in der Mongolei. Aber diese Kälte ist noch mal kälter. Sie tut weh. Ob das der Wintereinbruch ist, vor dem man uns gewarnt hat? Herbst und Frühling existieren in der Mongolei eigentlich nicht. Einem kurzen Sommer folgt ein
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