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Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)

Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)

Titel: Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Malchow
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langer unerbittlicher Winter mit Temperaturen bis zu minus 50 Grad.
    Meine Finger arbeiten sich durch einen Deckenberg und vorbei an der Kapuze des roten Fleeceanzugs, und ich erstarre: Der kleine Nacken strahlt mir nicht die bekannte sanfte Wärme entgegen. Auch nicht feuchten Schweiß, wie in den letzten zwei Nächten, in denen ich Levi zu warm eingekuschelt hatte.
    Nein. Der Nacken ist kühl. Und der Blick, mit dem Levi meine Bewegungen verfolgt, ist mir neu.
    Panik kriecht in mir hoch. Ich rüttle Markus wach, krame wie ferngesteuert ein Fieberthermometer aus Levis Reiseapotheke und erstarre: 35,5 Grad Körpertemperatur.
    Geht das überhaupt? Das Thermometer muss kaputt sein.
    Trotz täglicher Ermahnungen unserer mongolischen Gastgeber, nicht eigenmächtig den Ofen zu entzünden – sie befürchten, dass wir die Jurte oder schlimmer noch das gesamte Camp abfackeln könnten –, legt Markus getrockneten Yakdung, Holz und ein paar schon gelesene Mulisch-Seiten in den Ofen und schürt das Feuer an.
    Mein Magen rebelliert, meine Füße melden Flucht, Tränen kullern über mein Gesicht, aber meine Hände funktionieren. Ich bereite eine warme Milch zu und nehme eine Probemessung an mir vor: 36,9 Grad. Mist.
    Levi bekommt all unsere Decken und die warme Milch. Zwanzig lange Minuten später steht ihm der Schweiß auf der Stirn. Die zweite Kontrollmessung ergibt 36,4 Grad. Also weitermachen. Nach weiteren fünfzehn Minuten zeigt das Thermometer 37,1 Grad an, und Levi schnarcht ruhig und zufrieden. Dafür steht mir der Schweiß auf der Stirn. Kalter Schweiß.
    »Ich glaube, mir reicht es mit der Mongolei«, sage ich.
    Markus nimmt mich in den Arm, schlafen können wir beide nicht mehr.
    Zum Glück müssen wir bis zum Sonnenaufgang und etwas länger Holz und getrockneten Yakdung nachlegen.
    Die Morgensonne wärmt mich und gibt sich alle Mühe, die ängstlichen Gedanken zu vertreiben, die es sich letzte Nacht in meinem Kopf und meiner Seele bequem gemacht haben und nicht daran denken, das gemütliche Plätzchen so schnell wieder aufzugeben. Mit meinem Notfallsatellitentelefon stehe ich auf der Blumensteppe vor unserer Jurte, klappe die Antenne auf, lege die Telefonkarte ein und wähle. Zum zweiten Mal in meinem Leben benutze ich ein Satellitentelefon.
    Nach einigen Augenblicken meldet sich die vertraute Stimme der Sekretärin von Levis Kinderarzt. Der ist leider noch nicht im Haus, ich soll es einfach wieder probieren.
    »Wir sind in der Mongolei und haben ein Problem mit Levi«, sage ich freundlich, aber bestimmt.
    »Aha?«
    »Ich rufe von einem Satellitentelefon aus an, vielleicht können wir einen konkreten Telefontermin ausmachen?«
    Zehn Minuten später höre ich die Stimme des Arztes, den so leicht nichts aus der Ruhe bringt, sagen: »Levi ist mein erster Patient, der in die Mongolei gereist ist. Und nun darf ich ihn auch noch ferndiagnostisch unterstützen!« Keine Ironie in der Stimme, nur freundliche Hilfsbereitschaft.
    Puh. Ich bin erleichtert. Vorwürfe hätte ich jetzt nicht gebrauchen können.
    »Vielleicht brütet Levi einen Infekt aus«, sagt die freundliche Stimme aus Starnberg. »Dann sinkt die Temperatur bei Babys schon mal so tief ab! Wenn sie auskühlen, natürlich auch.« Wir sollen seine Temperatur kontrollieren und uns nicht allzu große Sorgen machen. »Ist Levi schon auf einem Yak geritten?«, fragt der Arzt zum Abschied, und ich verspreche ihm ein Foto.
    Den sonnigen warmen Tag verbringen wir wie paralysiert vor unserer Jurte. Levi krabbelt fröhlich brabbelnd zwischen den Blumen, als sei nichts gewesen. Die Nacht scheint fast spurlos an ihm vorübergegangen zu sein: Nur ein kleiner Schnupfen erinnert an seine Verletzbarkeit.
    Wir leben mit Levi in der Gegenwart. Mehr als jemals zuvor. Und das fühlt sich gut, gesund und richtig an. Und in der Gegenwart ist es einfach kälter als in meinen Plänen. In der Gegenwart macht mir die Sorge um Levis Körpertemperatur mehr zu schaffen, als ich es mir hätte vorstellen können.
    Also warum mich und uns quälen? Auch wenn wir über nächtliches Dauerheizen die Sache sicher in den Griff bekommen könnten. Auch wenn alles bestimmt viel weniger schlimm ist, als es aktuell scheint. Und auch wenn die Wetterprognose – die zugegebenermaßen in der Mongolei eine noch geringere Trefferquote hat als zu Hause – sehr günstig aussieht.
    Warum, wenn es sich nicht mehr gut anfühlt?
    Pläne ersetzen den Zufall durch den Irrtum. Mein alter Professor kommt mir wieder in

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