Mut für zwei: Mit der Transsibirischen Eisenbahn in unsere neue Welt (German Edition)
davor. Dann legt er den Kopf auf den Boden und versucht ins Innere der Blumen zu schauen. Immer und immer wieder. Bis er sich ein Herz nimmt und drei Glockenblumenköpfe fein säuberlich von den Stängeln trennt. Mit seiner Beute in den Händen krabbelt er los Richtung Decke. Um sein Ziel nicht zu verpassen, muss er mehrmals anhalten, seine Nase über das Blumenmeer heben und den Kurs leicht korrigieren. Mit ernster Miene legt er die Glockenblumenköpfe auf unsere Decke und macht kehrt.
Und wir beobachten ihn. Wie er sich immer weiter hineintraut in den Blumenwald. Sich immer wieder hinsetzt, die Nase hebt und unseren Blick sucht. Um dann, wenn er ihn findet, weiterzukrabbeln. Levi beschäftigt sich so eine gute Stunde allein, während Markus und ich von Tee auf Weißwein umsteigen und über der Blumenwiese meditieren. Die Decke verlassen wir für den Rest des Tages nicht mehr. Mit Blumenbeobachten, Mit-Levi-Spielen und Nichtstun sind wir vollkommen ausgelastet.
Die Leichtigkeit, mit der wir hier in der Gegenwart leben, wünsche ich mir für zu Hause. Und die Lockerheit, mit der wir hier einfach nur sind: mit dem Gefühl wie nach einer genialen Vorspeise und dem ersten Glas Wein. Voller Vorfreude, aber auch schon zufrieden und mit einer beflügelnden Leichtigkeit. So fühlt sich Familie richtig an. Ob uns das in München auch gelingt? Ohne zu Alkoholikern zu werden?
Bonita
Bonita leitet das Camp. Mit einem Dauerlächeln im Gesicht, das hochinfektiös ist. Bonita trägt streng nach hinten gebundene Haare und zu jeder Mahlzeit, die sie serviert, eine andere mongolische Tracht. Sie glitzert mal golden, mal rot und mal blau mit den Blumen um die Wette. Sie ist nicht älter als neunzehn und hat alles im Griff. Sie ist objektiv betrachtet keine Schönheit, aber das ist völlig nebensächlich. Denn diese junge Frau hat eine so einnehmende positive Ausstrahlung, dass ich überzeugt bin, dass die Schlange der mongolischen Männer, die um sie werben, von hier bis nach Ulan-Bator und zurück reicht. Mindestens.
Gestern konnte ich beobachten, wie sie einem altehrwürdigen mongolischen Yakkarrenführer die Hölle heiß gemacht hat, als der den Yak samt Karren fast über die gerade angekommene Lieferung von Eiern geführt hätte. Also, von wegen Respekt vor dem Alter.
Das Leben in der Mongolei ist hart. Jeder hat seine Aufgaben. Und wer die nicht erfüllt, wird ausgeschimpft. Überhaupt scheint Schimpfen in der Mongolei wie in Sibirien Teil des normalen kommunikativen Verhaltens zu sein.
Die Eier und alle weiteren Lebensmittel werden einmal pro Woche per Auto aus Ulan-Bator bis zum Parkplatz des Camps gefahren und dort unter den Augen von Bonita auf den Yakkarren verladen: eine Art überdimensionierte Schubkarre aus Holz, die von einem überdimensionierten zotteligen Stier gezogen wird. Der Yakkarrenführer bringt das Ganze dann in Begleitung aller Campmitarbeiter die 200 Meter vom Parkplatz bis zur Küchenjurte. Hier wird anschließend gemeinsam ausgepackt und der Speiseplan für die Woche entworfen. Je nachdem, was geliefert wurde. Und was nicht.
Als Markus, Levi und ich zum Frühstücken in der Restaurantjurte Platz nehmen, fragt Bonita nach unseren Plänen für den Tag.
»Können wir den Yak samt Karren mieten? Für einen Ausflug?«
»Klar!«, sagt Bonita. »In einer Stunde kann es losgehen. Oder in zwei. Wir müssen nur einen Yak einfangen.«
Die Yaks sind halb domestiziert: Sie leben in einer Herde in der Nähe des Camps, aber in Freiheit: ohne Zaun. Und ohne Ketten. Wenn Bonita einen Yak benötigt, schickt sie einen Campmitarbeiter los, einen einzufangen. Der verrichtet dann seine Aufgabe und kann danach wieder loslaufen zu seiner Herde.
Als Bonita in die Küche entschwindet, krabbelt Levi hinterher. Mit aller Kraft drückt er die Schwingtür einige Zentimeter zur Seite und blickt neugierig in den runden Raum, aus dem es so lecker herausduftet. Ein mehrstimmiges mongolisches Gurren ertönt. Erschrocken und aufgeregt zugleich flüchtet Levi unter unseren Esstisch. Die Köpfe dreier mongolischer Frauen erscheinen an der Küchentür. Sie versuchen, Levi zurück in ihr Reich zu locken. Der ziert sich. Noch.
Als die Köpfe verschwinden, krabbelt Levi wieder vor zur Tür. Als die Köpfe wieder erscheinen, bevor er die Tür erreicht hat, versteckt er sich unter unserem Tisch. Das wiederholt sich 648-mal, bis Bonita eine Entscheidung fällt. Sie lächelt Levi an, hebt ihn hoch, er protestiert nicht, und beide
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