Mutter des Monats
einmal ungewöhnlich. Genauso wenig ungewöhnlich wie der Umstand, dass ein Mann, der seine Frau verließ, plötzlich auch keine Zeit mehr für die Kinder hatte. Wenig ungewöhnlich, aber trotzdem deprimierend. Sehr deprimierend, dass ein Mann, der sich vor weniger als zehn Jahren noch ums Zufüttern gesorgt hatte, seine Kinder heute mit einer knappen SMS versetzte. Dass er sich damals noch so viele Gedanken um den Magen seiner kleinen Tochter gemacht hatte, nur um ihr heute das Herz zu brechen und auf ihren Gefühlen herumzutrampeln. Tag für Tag, Woche für Woche. Das war einfach traurig. Anders konnte man es nicht nennen.
Schluss! Genug geweint. Das wurde langsam langweilig. Doch an Arbeiten war jetzt auch nicht mehr zu denken. Schon wieder nicht. Komisch, mit einer Mordswut im Bauch war es gar nicht so leicht, fröhliche Bilder zu malen. Rachel sollte ein Kinderbuch mit dem Titel Ellies Gummistiefel illustrieren. Es handelte von zwei kleinen roten Gummistiefeln, die allein umherstreiften und allerhand Abenteuer erlebten, wenn sie nicht gerade die winzigen Füße ihrer Besitzerin vor Nässe schützten. Doch Rachel hatte ein ganz anderes Bild im Kopf: das eines größeren, schwereren Stiefels, der seine eigenen Abenteuer in Chris’ unrasierter schottischer Visage erlebte.
Rachel seufzte, kniff die Augen zusammen, um nicht schon wieder loszuheulen, schob den Stuhl zurück und kollidierte mit einem weiteren Umzugskarton. Jetzt war das Maß voll. Obwohl Chris schon Ende des Sommers ausgezogen war, standen überall im Haus Kartons mit seinen Habseligkeiten herum, strategisch platziert wie Jetons auf einem Roulettetisch. Auf diese Weise war er nicht ganz weg, das Hintertürchen stand noch offen. Na, die Entscheidung würde sie ihm abnehmen. Ihre persönlichen »Altlasten« – Heather, du dumme Nuss – würde sie am Sonntag auf dem Flohmarkt verkaufen und ihrem Ex-Mann bei der Gelegenheit seine Sachen mitbringen.
Sie stapelte die bereits von ihm gepackten Kartons und schnappte sich ein paar leere dazu. Abgesehen von seinen Klamotten – sein Nachlass sozusagen, denn für Rachel war der Mann tatsächlich gestorben –, sollte er auch gleich seine Bücher mitnehmen. Nicht, dass er die noch lesen würde, für ihn gab es mittlerweile nur noch iPad und Blackberry, aber das war sein Problem, und Rachel brauchte Platz auf den Regalen.
Als sie sich kennenlernten, hatte Rachel Chris für seine Belesenheit bewundert. Wie klug dieser Mann doch war, wie viel er wusste, nicht nur über Literatur, sondern über alles. Rachel war nie über Enid Blyton hinausgekommen, die Weltliteratur konnte dieser Autorin einfach nicht das Wasser reichen. In den ersten Jahren ihrer Beziehung hatte sie eigentlich nur gemalt, gebastelt und nicht weiter über den Tellerrand geschaut. Sie hatte zu seinen Füßen gesessen und an seinen Lippen gehangen. Dann aber war sie aufgestanden, hatte sich einen eigenen Stuhl geholt und ihre Nase nonstop in Bücher gesteckt. Und irgendwann war ihr aufgefallen, dass Chris überhaupt nicht mehr las.
Sie nahm seine Lieblingsromane aus dem Regal, über die er früher gern mit ihr gesprochen hatte: Die geheime Geschichte, Verführung , die Romane von Anne Tyler und die ihres gemeinsamen Lieblingsautors Graham Greene. Rachel fand den Gedanken, dass Chris diese Bücher in sein neues Leben mitnehmen würde, seltsam tröstlich. Wie ein verschmutzter Fluss, der auch Gutes aus der Quelle mitführt, würde Chris Spurenelemente seines besseren, früheren Ichs mit sich tragen.
Nun musste sie also ihren freien Samstag mit Poppy verbringen. Sie könnten gemeinsam eine Dalek-Verkleidung basteln. Dafür wären ein paar leere Eierkartons ganz praktisch. Silberne Farbe. Küchengeräte. Das würde sie beide ablenken. Und am Montag wäre das Haus endlich entrümpelt. Aufgeräumt. Dann könnte Rachel den Rest ihres Lebens beginnen.
12.30 Uhr: Mittagspause
Heather stand, die Hände im Spülwasser, in Colettes Küche und betrachtete den kahlen, aufgeräumten Garten. »Da arbeitest du also, in dem kleinen Holzhaus da draußen?« Es erinnerte sie ein wenig an Maisies Puppenstube. Halt mal, sah die nicht haargenauso aus?
»Das ist die Serenity Wellness- und Schönheitsoase , genau.« Colette kniete vor dem Trockner und zerrte die nächste fertige Ladung heraus.
Auf dem Flohmarkt-Sondertreffen hatte Bea vorgeschlagen, einen Wühltisch aufzustellen, den sie allerdings als Stand für »Vintage-Mode« bezeichnet wissen wollte. Es war
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