Mutter des Monats
herum. »Das ist nicht alles für mich.«
Rachel war nach Erhalt der SMS auf dem Schreibtisch zusammengesunken, und da lag sie jetzt noch. Der schöne, neue Zeichenkarton war so durchnässt, dass sie ihn nicht mehr gebrauchen konnte. Ihre triefenden, schniefenden Schluchzer hallten durch das leere Häuschen. Ihre Katze beobachtete sie mit amüsierter Arroganz. Eigentlich gehörte die Katze ihr gar nicht – Chris hatte auch die verlassen. »Brauchst gar nicht so überheblich zu gucken«, sagte Rachel und widmete sich wieder ihren Tränen.
Früher hatte sie die Stille im Haus genossen. Als es noch das Heim einer glücklichen, lärmenden Familie gewesen war, wo Ruhe Luxus bedeutete. Sie hatte die Zeit genossen, die ihr blieb, bis alle wieder zur Tür hereingepoltert kamen – wie bei einer Party kurz vor dem Eintreffen der Gäste. Und das Frühstück, wenn Chris über den Radiosprecher geschimpft hatte – »Du bist ein solcher Volltrottel !« –, bevor er ins Büro verschwunden und Josh das letzte Mal die Treppe hoch- und runtergetrampelt war, um den Schulbus gerade noch zu erwischen. Sobald sie Poppy dann zur Schule gebracht hatte, war sie nach Hause zurückgekehrt und hatte der Stille gelauscht wie ein Arzt dem Herzschlag eines Patienten. Dann hatte sie vor Freude geseufzt und die vorübergehende Freiheit genutzt.
Doch jetzt war alles anders. Natürlich fand weiterhin jeden Abend eine Party statt – aber eben woanders, und Rachel war nicht eingeladen. Vielleicht gab es noch einen Herzschlag, aber der Patient lag im Koma. Alle waren still, vor allem am Abend. Besonders Josh. Ihr einst so aufgeweckter, lachender Sohn hockte jetzt nur noch auf seinem Zimmer, lebte auf einem anderen Planeten und beantwortete ihre Fragen mit Grunzlauten. Aber lag das an der Pubertät oder an der Trennung? Das konnte Rachel nur schwer ausmachen. Und der Einzige, der ihr vielleicht hätte helfen können, glänzte durch Abwesenheit. Das Schlimmste aber war die Trennung selbst gewesen. Sie war ein weites Elendsgebiet, man konnte sich keine einzelne Zone herauspicken und ihr das Prädikat »besonders fürchterlich« verleihen, sondern hatte sprichwörtlich die Qual der Wahl. Dennoch konnte sie ganz klar erkennen, welcher Aspekt sie momentan am meisten beschäftigte, nämlich, dass der von ihr geliebte Vater ihrer geliebten Kinder ein kompletter Mistkerl war. Wie konnte das sein?
Abends, 20 Uhr, vor dreizehn Jahren und neun Monaten: Chris und Rachel wollten das erste Mal seit Joshs Geburt ausgehen. Rachel war auf wundersame Weise rechtzeitig fertig gewesen, ihre Mutter hatte einsatzbereit auf dem Sofa gesessen und das Fernsehprogramm studiert, doch wo war Chris? Was machte der denn so lange? Sie fand ihn oben im Kinderzimmer, völlig versunken liebkoste er im sanften Schimmer des Nachtlichts das Gesicht seines Babys. Rachel schlich auf Zehenspitzen hinein, denn sie war noch völlig unerfahren in diesen Dingen, wusste nicht, dass man Dynamit brauchte, um einen schlafenden Säugling zu wecken, und legte Chris die Hand auf den Arm. »Nur darauf kommt es an«, hatte er an jenem Abend mit feuchten Augen zu ihr gesagt. »Deshalb sind wir zusammen: Damit es ihn gibt.«
Sonntagmorgen, vor zehn Jahren und – Moment – zwei Monaten: Chris und Rachel saßen aneinandergekuschelt auf dem Sofa. Josh war draußen auf der Schaukel. Die Tür zum Garten stand offen, damit sie ihn sehen konnten. Alles war gut. Chris hatte die Beine auf den Couchtisch gelegt und seine neugeborene Tochter darauf gebettet. Damals waren sie wie eins gewesen, so wie Knetfiguren aneinandergedrückt zu einer einzigen bunten Masse werden. Chris, den linken Arm um Rachels Schultern gelegt, streichelte mit dem Zeigefinger über Poppys Gesichtchen. Sie sprachen über den richtigen Zeitpunkt zum Abstillen. Die Familienberatungsstelle hatte vor Poppys Geburt neue Richtlinien herausgegeben, und sie wollten auf keinen Fall etwas falsch machen. Sie hatten sich sogar diesen Termin freigeschaufelt, damit sie das Thema in Ruhe besprechen konnten. Füttern oder Stillen, das war die Frage. Beide hatten um die richtige Antwort gerungen.
Sie hatten die Reise durchs Leben doch gemeinsam angetreten. Was war nur schiefgegangen? Chris hatte im Rückspiegel eine andere gesehen, Rachel während der Fahrt aus dem Auto geschubst und das Steuer herumgerissen. Jetzt befand er sich auf einer neuen Reise, ohne sie. Wie konnte er nur wegen einer anderen Frau alles kaputtmachen? Dabei war das gar nicht
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