Mutter des Monats
Ambrose, der das Schicksal einen brutalen Hieb verpasst und alles kaputt geschlagen hatte.
Sie sah sich um. Die Klassenzimmer waren erleuchtet, im trüben Morgenlicht strahlten die kirchlich anmutenden Bogenfenster Wärme und Zuversicht aus. Rachel fragte sich, warum sie hier herumstand, und wie sie es jetzt anstellen sollte, einfach weiterzumachen, als sei nichts geschehen. St. Ambrose bestand aus der Summe der Familien, sie waren seine DNA . Es existiert nur, weil es uns gibt, weil wir uns zu einer großen Einheit zusammengeschlossen haben, dachte sie. Wir sind die Zellen, die Bausteine dieser Schule. Aber jede Zelle ist hochempfindlich. Zellen teilen sich ständig, sterben ab. Wie oft darf das geschehen, bevor sich der ganze Organismus verändert oder abstirbt?
Die Gruppe unter dem Baum war größer geworden und umschloss nun auch Rachel. Die meisten schwiegen. Nur die Dümmsten konnten die Klappe nicht halten.
»Die armen Kinder.«
»Aber die Jungs gehen doch in denselben Konfirmationsunterricht wie unsere. Wir haben Steve jeden Sonntag gesehen.«
»Und das eine Woche vor Weihnachten …«
Rachel war froh, dass sie selbst nie unter einer schweren Depression gelitten hatte, trotzdem war ihr klar, dass Steve den Kampf gegen seine inneren Dämonen wohl kaum wegen Weihnachtsgans und Tannenbaum verschoben hätte. Die tiefe Hoffnungslosigkeit dieser Tragödie überforderte sie, die Gruppe engte sie ein und schnürte ihr die Luft ab. Doch wie die anderen blieb sie schaudernd stehen und konnte sich einfach nicht lösen. Sie hörte, wie die anderen sich Anekdoten erzählten – »Ich kenne ihn schon seit dem Geburtsvorbereitungskurs« –, um einen Teil der Aufmerksamkeit für sich zu beanspruchen. Rachel wollte einfach nur nach Hause, sich fallen lassen und weinen, allein. Wenn sie sich doch nur bewegen könnte …
Plötzlich hob Georgina, die sich auch noch nicht vom Fleck gerührt hatte, den Kopf, sie war aufmerksam und hellwach wie ein wildes Tier, das Gefahr wittert. Rachel fürchtete fast, sie würde einen Streit vom Zaun brechen. Das hätte sie ihr glatt zugetraut. Georginas Augen waren zu Schlitzen verengt, ihre Nasenflügel bebten. Sie war angespannt und beobachtete konzentriert, was sich am Unterrichtspavillon neben dem Schuleingang abspielte.
»Das darf doch wohl nicht wahr sein! Was zum Teufel …« Sie preschte vor und der Rest der Gruppe hinterdrein.
Bea stand dort in Trauerkleidung, ein Klemmbrett in der Hand. Ihre Augen waren trocken, doch sie hatte eine professionelle Trauermiene aufgesetzt. Sie unterhielt sich murmelnd mit einem Elternteil – »Danke, nett von Ihnen. Es ist sehr schwer. Eine wunderbare Familie. Furchtbarer Schock« – und notierte sich etwas. Dann sah sie Georgina.
»Ach, Georgina, es tut mir so leid, dass du es durch mich erfährst. Ich muss dir etwas Tragisches, furchtbar Trauriges mitteilen. Steve – weißt du? Joannas Mann? – hat …«
»Danke. Vielmals.« Georginas Stimme war zwar belegt, aber immer noch laut genug. »Ich weiß ganz genau, wie Joannas Mann heißt. Und die tragische Neuigkeit habe ich schon gehört.«
Bea legte sich die Hand auf die Brust. »Ach, das ist ja wenigstens eine kleine Erleichterung für mich .« Sie schüttelte ihr Haupt und schob sich die Haare hinter die Ohren. »Das ist wirklich eine Herausforderung für mich …«
»Aber du schaffst es trotzdem, hm, Bea? Wie machst du das nur? Sie hat ihn gerade erst gefunden, nicht mal seinen Bruder hat sie bisher erreicht. Aber du weißt schon wieder genau Bescheid.«
Bea trat ein paar Schritte zurück, bis sie gegen die Wand des Pavillons stieß. Georgina hielt weiter auf sie zu.
»Du bist wie diese skrupellosen Klatschreporter, die ihre Geschichte schon geschrieben haben, bevor sie überhaupt passiert ist.«
Mittlerweile hatte sich eine Menschentraube um die beiden gebildet.
»Bestichst du die Sanitäter? Oder hast du einen Spitzel bei der Polizei? Hm?«
Georgina baute sich vor Bea auf und fauchte ihr ins Gesicht.
»Du kannst Joanna nicht ausstehen, und sie dich auch nicht. Steve kanntest du überhaupt nicht. Du weißt gar nichts, hast keine Ahnung von ihrem Leben. Wie kannst du es wagen, hier mit deinem Klemmbrett aufzutauchen wie ein Totengräber, obwohl du gar nichts, aber auch nicht das Geringste mit dieser Sache zu tun hast?«
Rachel wollte gerade spontan applaudieren, was natürlich völlig unpassend gewesen wäre, doch da öffnete Mrs Black, die Schulsekretärin, die
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