Mutter des Monats
Debbie.«
»… aber wir werden keinen Trauergottesdienst abhalten, und damit basta. Verschwenden Sie keine Zeit damit. Ich war noch nie gut auf Gott zu sprechen, und Steve konnte den alten Deppen sowieso nicht ausstehen. Jetzt will ich erst recht nichts mit ihm zu tun haben. Verstehen Sie? Schauen Sie uns doch an. Bei uns ist alles im Eimer. Ich, die Jungs, das Geld, das Haus …« Sie stockte, schluckte schwer und zeterte weiter. »Alles klar? Ich mein, ja, herzlichen Dank auch, Gott. Für alles. Ganz toll gemacht, Gott.«
Reverend Debbie stellte ihren Becher mit extrastarkem Tee auf dem gemusterten Teppich ab und legte die Hände auf die Knie. Jetzt, dachte Georgina, wird’s interessant. Denn jeder an der Schule von St. Ambrose musste sich offiziell zum christlichen Glauben bekennen. Reverend Debbie nahm das alles sehr ernst. Unter normalen Umständen würde niemand seine Zweifel so offen kundtun, noch dazu vor einem Mitglied des Schulbeirats.
»In den dunkelsten Momenten der Trauer ist es immer schwer, die Hand Gottes zu ergreifen.«
Doch hier handelte es sich um besonders dunkle Umstände: Joanna kommt von der Arbeit nach Hause und findet den erhängten Ehemann, bereits erkaltet, in der Garage. Joanna kämpft, ringt wild um sich schlagend mit einem Schicksal, das wir uns in unseren schlimmsten Träumen nicht ausmalen können, dachte Georgina und biss sich auf die Lippe. Sie durfte hier nicht weinen, nicht jetzt, da Joanna neben ihr saß. Aber wie, fragte sie sich, sollen wir uns ihr gegenüber je wieder normal benehmen?
Sie blickte auf die Anrichte und das Foto von einem grinsenden Steve aus glücklicheren Zeiten seines Lebens, als er noch nicht wusste, was ihn erwartete: Steve mit Ollie als Baby, Steve mit Freddie in identischen Fußballhemden, Steve, sonnengebräunt und besoffen, der zusammen mit seinen Kumpels einen Liverpool-Fan-Schal in die Kamera hält. Kein Bild von Steve und Joanna, aber so war das mit Familien: Einer fehlte immer, weil er oder sie hinter der Kamera stand.
»Also, wenn wir uns nur auf eine Zeremonie im Krematorium einigen sollten …« Die Vikarin versuchte es erneut.
»Haben wir schon.«
»… könnten wir immer noch einige religiöse Elemente einbauen. Beliebte Kirchenlieder und so was? Manche Leute besinnen sich bei einem solchen Anlass wieder auf die Lieder und Gebete ihrer Hochzeit.«
Steve und Joanna hatten erst vor Kurzem geheiratet, weil er seinen Job verloren und ein Finanzberater es ihnen nahegelegt hatte. Aber sie hatten sich lediglich standesamtlich trauen lassen, während die Jungs beim Schwimmkurs gewesen waren. Am Montagmorgen vor der Schule hatte Joanna zufrieden verkündet, dass sie die ganze Angelegenheit noch vor den Sportnachrichten hinter sich gebracht hatten. Also gab es nicht mal alte Hochzeitsfotos. Georgina hätte sie zu gern zusammen gesehen, als sie noch jünger und glücklicher gewesen waren, bevor der Familienalltag sie wie ein Straßenräuber überfallen und ihnen ihre Individualität gestohlen hatte.
»Oder vielleicht ›Bleib bei mir, Herr‹? Das kann auch Trost spenden.«
»Jetzt mal halblang, Debbie.«
Georgina kannte Joanna noch nicht so lange, erst seit sechs Jahren, seit der Einschulung von Ollie und Kate. Trotzdem kannte sie Joanna in vielerlei Hinsicht besser als einige ihrer Sandkastenfreundinnen. Sie wusste, welche Süßigkeiten Joanna am liebsten aß (Gummibärchen) und wie es um ihr Liebesleben und ihren Beckenboden bestellt war (ganz schlecht). Sie trafen sich jeden Tag, meistens zweimal, manchmal öfter: Genügend Zeit, sich über das Kleingedruckte des Alltags auszutauschen, inklusive Fußnoten, und so viel mehr Zeit, als Georgina mit ihren Seelengefährtinnen aus der Collegezeit verbrachte. Die traf sie höchstens dreimal im Jahr, und dann unter derartigem Zeitdruck, dass sie sich die Neuigkeiten praktisch in Form von Schlagzeilen zubrüllen mussten. » SCHWANGER !« » HAB IHN RAUSGESCHMISSEN !« » WIEDER SCHWANGER !«
Trotzdem wurde ihr jetzt, hier auf Joannas Couch, schlagartig klar, wie viel sie nicht wusste. Gewusst hatte. Beispielsweise hatte sie noch nie zuvor in diesem Wohnzimmer gesessen. Georgina war nie weiter als bis zur Küche gekommen. Sie war immer nur ein Teil des Alltags ihrer Freundin gewesen. Ihres normalen Lebens. Des Trotts. Wie Joanna mit diesem grauenhaften Ausnahmezustand zurechtkommen sollte, konnte Georgina sich nicht mal annähernd vorstellen. Denn obwohl sie von Steves Depressionen gewusst hatte,
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