Mutter des Monats
und davon, dass Joanna Schwierigkeiten mit ihm gehabt hatte, war sich Georgina weder des dramatischen Ausmaßes der Situation noch der Gefahr einer derartigen Eskalation bewusst gewesen. Als sie sich in Steves Haus umblickte, Steves Frau ansah, seine Dinge betrachtete, verstand sie auf einmal, dass sie Steve überhaupt nicht gekannt hatte.
Heather stand in der Küche vor zwei verschiedenen Auflaufformen. Eine war definitiv zu groß – sie wollte Joanna ja nicht mit Essensresten oder nassem Biomüll belasten – und die kleinere Form war einfach immer wieder praktisch, die wollte sie auf jeden Fall zurückhaben. Wie viel aß die Familie wohl?
Joanna hatte zwei Jungs, beide trieben viel Sport, und Joanna war auch keine Kostverächterin, das war allgemein bekannt. Aber würden die jetzt, in dieser schrecklichen Zeit, überhaupt Appetit haben? Es war alles furchtbar kompliziert, und sie wollte auf keinen Fall etwas falsch machen.
Etwas mehr Koordination wäre schon ganz gut. Ohne einen richtigen Plan schwirrten sie einfach so durch die Gegend. Natürlich nahm es Bea keiner übel, dass sie sich nicht um die Planung kümmerte, nachdem Georgina sie auf dem Schulhof ja fast verprügelt hatte, an dem fürchterlichen Tag, als Steve … Heather mochte gar nicht daran denken. Aber bei dem Thema waren sich alle einig. Beim Spaziergang vorhin hatten sie alles noch mal durchgesprochen, und die einhellige Meinung hatte gelautet: keine Schuldzuweisungen, einfach ausschwärmen und schauen, wie es läuft.
Einerseits musste Heather zugeben, dass die meisten Pläne nicht zu ihrem Vorteil gewesen waren. Damals zum Beispiel, als ihre nette Nachbarin Pat an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt war, hatte Heather sie eigentlich regelmäßig zur Chemo fahren und wieder abholen wollen, aber die Leute vorn an der Wendeschleife hatten sich einfach die ersten Wochen Fahrdienst unter den Nagel gerissen, obwohl sie die alte Dame überhaupt nicht kannten. Und dann war Pat einfach gestorben, traurigerweise noch bevor Heather an der Reihe gewesen war. Das bedauerte Heather heute noch, denn sie hatte immer gern ein Schwätzchen mit ihr gehalten. Wo sie gerade dabei war: Mit Lauras Zwillingen, die von der Schule abgeholt und zu den Pfadfindern gebracht werden mussten, lief es ähnlich. Heather war immer noch nicht drangekommen, obwohl sie schon seit Wochen auf der Warteliste stand. Soweit sie das beobachten konnte, wurden immer dieselben Leute ausgewählt. Es war ja nett, dass alle helfen wollten – das war ja gerade das Schöne an St. Ambrose –, aber genauso nett wäre es doch, wenn alle mal drankämen.
Die kleinere Auflaufform. Heathers Entscheidung war gefallen. Wenn schon, dann richtig. Die kleine Form sah viel ansprechender aus und war groß genug für drei große Mahlzeiten. Obwohl – ach, Mensch, sie war nicht spülmaschinenfest! Egal, Heather würde einfach ein kleines Post-it mit einer ganz kurzen Anleitung draufkleben und dazuschreiben, dass sie die Form in ein paar Tagen wieder abholen würde. Das müsste funktionieren. Hoffte sie jedenfalls. Sie wollte der trauernden Joanna ja nicht auch noch zur Last fallen.
Ich wusste fast nichts über ihn, dachte Georgina. Und so verhielt es sich eigentlich mit allen Vätern der Schulfamilie: Natürlich gab es sie, und gelegentlich tauchten sie auch mal in der Schule auf – viel häufiger, als ihr Vater es getan hatte (Kunststück, denn der war genau null Mal in der Schule gewesen), aber sie blieben nie länger als nötig und redeten nur, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ. Mit dem eigenen Nachwuchs gingen sie zwar wunderbar um, doch die besondere Gabe der Mütter, alles über die Kinder anderer Leute zu wissen, besaßen sie nicht. Sie dachten nicht an die Geburtstage ihrer Freunde und würden im Notfall bestimmt nicht vorübergehend bei ihnen einziehen. Viele von ihnen hatten Steve samstags regelmäßig beim Altherrenfußball getroffen, aber ihnen war nicht mal aufgefallen, dass er schlechte Laune hatte, geschweige denn, dass er selbstmordgefährdet war.
Georgina saß weiter schweigend auf der Couch, während Joanna und Reverend Debbie die Details der Beerdigung aushandelten. Bei dem Lied »You’ll never walk alone« hatte es einen seltenen Moment der Einigkeit gegeben, denn man sang es vor Fußballspielen, aber es war trotzdem auch für gläubige Menschen geeignet – mit viel gutem Willen. Abgesehen davon benutzte Joanna die Geistliche im Sessel gegenüber allerdings als Blitzableiter
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