Mutter, wann stirbst du endlich?: Wenn die Pflege der kranken Eltern zur Zerreißprobe wird (German Edition)
begreife, dass ich diese Situation nicht mehr allein lösen kann, und rufe meinen Bruder an – Jens will ich nicht fragen, denn er hat schon genug um die Ohren mit meinen Eltern. Eine halbe Stunde später steht er dann auch in der elterlichen Wohnung. Zu zweit schaffen wir es, unserer Mutter das Nachthemd anzuziehen und sie ins Bett zu bringen. Allerdings nicht ohne Geschimpfe.
»Das verzeih ich dir nicht!«, ruft sie und: »Ich bin ja so enttäuscht von dir!«
Aber warum ist sie denn enttäuscht von mir? Ihre Worte verfolgen mich bis ins Bett. Ich starre in die Dunkelheit. Mach ich nicht alles für die beiden? Was kann ich denn noch tun? Ist es zu wenig? Jens ist noch einmal ins Büro gegangen. Als er endlich herunterkommt und sich neben mich legt, beruhige ich mich wieder etwas. Dennoch dauert es eine halbe Ewigkeit, bis ich einschlafen kann.
In den nächsten Wochen kommt kein männlicher Pfleger mehr zu meiner Mutter, dafür müssen wir uns mit den Zeiten des Pflegedienstes arrangieren. Selbstverständlich können die Pfleger nicht überall um halb neun morgens sein, ebenso wenig um zehn Uhr abends. Doch für meine Eltern ist das nicht nachvollziehbar. Entweder kommt der Pflegedienst zu früh: »Ich geh doch nicht um neun Uhr ins Bett!« oder er kommt zu spät und meine Mutter versucht, mithilfe meines Vaters selbstständig ins Bett zu gehen. Diese Versuche führen meist dazu, dass ich laute Stimmen oben höre und weiß, dass wieder etwas total schiefläuft.
Mittlerweile habe ich meine Besuche bei den Eltern auf drei Abende pro Woche reduziert. War es ein Jahr zuvor noch ganz amüsant, bei ihnen zu sitzen und zu plaudern, ist es mittlerweile nur noch anstrengend – entspannte Gespräche gibt es kaum mehr. Meine Besuche reduzieren sich darauf, die zwei bei Laune zu halten, bis der Pflegedienst kommt.
Und nach reiflicher Überlegung beschließen wir im Familienrat, dass baldmöglichst eine Pflegerin ins Dachgeschoss ziehen soll.
Es ist einer dieser Abende kurz nach dem Nachthemddilemma, an denen ich mir eigentlich vorgenommen habe zu entspannen. Es gelingt mir nicht wirklich. Immer wieder sehe ich auf die Uhr. Inzwischen ist es schon fast zehn Uhr, und der Pflegedienst war immer noch nicht da. Wo bleibt er denn nur wieder?
»Bin gespannt, wann der Stress da unten wieder losgeht«, sage ich zu Jens.
Er ist gerade auf dem Weg ins Dachgeschoss, um noch etwas aus dem Büro zu holen. Als er die Tür zum Treppenhaus öffnet, höre ich, wie mein Vater laut wird. »Jaaaaaa! Wir gehen ja jetzt!«, höre ich ihn rufen.
Jens steckt seinen Kopf wieder ins Wohnzimmer und verdreht die Augen. »Soll ich mal nach unten gehen?«, fragt er.
»Nein. Ich gehe schon«, stöhne ich.
Unten angekommen sehe ich, wie mein Vater gerade dabei ist, sich seine Schuhe anzuziehen.
»Wo willst du hin?«, frage ich ihn erstaunt.
»Weg! Deine Mutter will nach Hause«, blafft er mir entgegen.
Ich gehe zu ihr ins Wohnzimmer. Sie sitzt auf dem Sofa und versucht aufzustehen, was ihr aber nicht gelingt. Es fehlt ihr die Kraft. Sie fällt immer wieder rückwärts auf das Sofa.
»Was machst du denn?«, frage ich sie.
»Ich gehe nach Hause«, antwortet sie bestimmt.
»Aber Mutti! Du wohnst doch hier!«, sage ich.
Sie sieht mich ehrlich erstaunt an. »Was? Hier?«, fragt sie mich.
»Ja. Ganz bestimmt. Schau mal. Seit über dreißig Jahren ist das dein Zuhause«, erkläre ich ihr.
»Tatsächlich?«, fragt sie.
Dabei sieht sie sich um. Ihr Blick sucht nach vertrauten Gegenständen, die sie offenbar nicht finden kann.
Sie fragt mich: »Wem gehört denn das Haus?«
»Na, dir und deinem Mann«, erkläre ich.
Wie auf Kommando kommt mein Vater ins Zimmer. Er trägt einen Mantel und geht bestimmt auf seine Frau zu.
»Jetzt komm schon!«, fährt er sie an. »Gehen wir nach Hause!« Er zerrt an ihrem Unterarm und will sie hochziehen. Sein Gesicht ist dabei wie versteinert.
»Was soll das?«, frage ich ihn.
Er ist stocksauer auf meine Mutter. Höchstwahrscheinlich hat sie ihn schon den ganzen Abend mit ihrer Fragerei zermürbt.
»Vati, bitte! Das ist doch Quatsch. Das weißt du doch!«, versuche ich ihn zu beruhigen. Doch das bringt ihn noch mehr in Fahrt.
»Quatsch ist, was deine Mutter den ganzen Tag erzählt. Das hält doch kein Mensch aus«, schleudert er mir entgegen.
»Entschuldige mal!« Meine Mutter sieht meinen Vater vorwurfsvoll an. »Ich kann doch fragen, wem das Haus gehört.«
Mein Vater ist sprachlos. Er sieht sie an, dann
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