Mutter, wann stirbst du endlich?: Wenn die Pflege der kranken Eltern zur Zerreißprobe wird (German Edition)
steige.
Er lacht kurz auf. »Jaja! Wünsch euch einen schönen Tag!«, ruft er und blickt uns hinterher. Und dann hebt er die Hand und winkt.
Fast so wie früher, denke ich. Da hat er auch immer so gewunken, wenn der Sonntagsbesuch wegfuhr. Tränen steigen mir in die Augen. Verdammt, was ist nur aus ihm geworden? Manchmal kann er so nett sein – so wie er es damals fast immer war.
Ja, das ist noch nicht allzu lange her. An seinem achtzigsten Geburtstag sah er immer noch wie siebzig aus. Er las täglich zwei Tageszeitungen, hörte stündlich Radio und war ein großer Fan von Dieter Hildebrandt. Die Alten, wie er sie nannte, die immer nur meckerten, fand er schrecklich. Man(n) selbst solle sich nicht so wichtig nehmen, war sein Motto. Nur wenige Jahre später ist das alles vergessen. Einige seltene Momente mit seinem ansteckenden Lachen, gepaart mit dem spitzbübischen Blitzen in seinen Augen, sind geblieben.
Ich weiß, dass ich den Moment gerade fest in mein Gedächtnis einschließe.
Wut
An einem sonnigen Samstag ist es mal wieder so weit. Die tausend Quadratmeter große Rasenfläche muss gemäht werden. Schon heute weiß ich, dass ich später keinen solch großen Garten haben werde. Die Unmengen von gemähtem Gras, mit denen man nie weiß, wohin, der Treibstoffgestank des Rasenmähers und die vielen Mückenstiche, die man dabei abbekommt, sind hauptsächlich dafür verantwortlich, dass ich diesen Job nie mochte. Doch das nützt mir heute nichts. Der Rasen ist schon sehr hoch, was das Mähen schwieriger macht.
Ich sehe auf die Uhr. Es ist drei. Die Pflegerin müsste ihre Mittagspause beendet haben und jetzt schon bei den Eltern sein. Auf keinen Fall will ich Mutter oder Vater wecken, solange sie noch ruhen. Und tatsächlich höre ich Tessa in der Wohnung meiner Eltern munter plappern, während ich die Treppe hinuntergehe. Also schnappe ich mir gleich den Rasenmäher und fange an. Nach einer Weile nehme ich wahr, dass mein Vater auf der Terrasse sitzt und sich die Ohren zuhält. Schon wieder, denke ich! Kann er sich nicht mal freuen, wenn ich diese Arbeit für ihn erledige? Meint er vielleicht, ich würde seinen Rasen zu meinem Vergnügen mähen? Anscheinend ist ihm völlig entgangen, dass ich diese Aufgabe für ihn erledige.
Irritiert stelle ich den Motor ab, werfe meine Gartenhandschuhe weg und stapfe zu ihm. Seit Beginn des Sommers macht er das Theater. Sein Missfallen tut er kund, indem er kopfschüttelnd durch die Gegend läuft oder sich die Ohren zuhält.
»Kannst du mir mal sagen, wieso du dir die Ohren zuhältst?«, fahre ich ihn an.
Er schüttelt den Kopf hin und her und fragt: »Wie oft willst du den Rasen eigentlich mähen?«
In dem Moment fährt die Pflegerin meine Mutter im Rollstuhl auf die Terrasse. Ihr Zustand wird mit jedem Tag schlechter. Ich bezweifle, dass sie mich noch erkennt.
»Hallo!«, ruft sie mir zu. »Können Sie mich bitte nach Hause bringen?«
»Das hält doch kein Mensch aus!«, wettert mein Vater.
Die Pflegerin lächelt mich mitleidig an.
»Die redet den ganzen Tag so einen Schmarrn!«, fährt mein Vater fort. Dabei zeigt er mit dem Finger auf seine Frau. Wieder zu mir gewandt schimpft er: »Und jetzt muss ich auch noch den Lärm ertragen! Hat man denn hier nie seine Ruhe?«
Tessa versucht, die Situation zu retten, indem sie sagt: »Jetzt gibt es erst einmal Kaffee!«
Lächelnd schenkt sie meinem Vater eine Tasse Kaffee ein und nickt ihm aufmunternd zu. Doch seine Laune ist nicht mehr zu retten.
Er brüllt meine Mutter an. »Du bist hier zu Hause! Hör endlich auf mit deiner blöden Fragerei!«
Meine Mutter sieht ihn an und macht etwas Unglaubliches. Sie nimmt ihren Zeigefinger und tippt sich an die Schläfe. Ihre Augen sind direkt auf meinen Vater gerichtet. Ich kann gar nicht glauben, was ich da sehe. Jetzt sieht sie mich an und wiederholt die Geste.
»Wer ist der Mann?«, fragt sie.
Diese Situationskomik kann ich trotz Wut im Bauch nicht mehr ignorieren. Ich beginne, laut zu lachen. Mein Vater dagegen findet das Verhalten seiner Frau überhaupt nicht komisch. Er knallt die Tasse auf den Tisch und stapft beleidigt in die Wohnung.
Egal, denke ich. Mir reicht es für den Moment. So gehe ich zurück zum Rasenmäher und mache mich an die Arbeit. Lena und Jens sind schon am See. Ich beeile mich, um schnell nachfahren zu können. Auf der Terrasse kümmert sich Tessa um meine Mutter. Mein Vater ist mittlerweile aus der Wohnung zurück und hält sich wieder die Ohren zu.
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