Mutter, wann stirbst du endlich?: Wenn die Pflege der kranken Eltern zur Zerreißprobe wird (German Edition)
für einen Moment lebensmüde.
»Mama!«, ruft Lena. Sie sitzt in ihrem Zimmer und hat das Theater im Erdgeschoss auch gehört. »Mama, schau doch mal nach Oma. Da unten poltert es so!«
Ich erschrecke über meine eigenen Gedanken und richte mich schnell wieder auf. Was habe ich da nur gefühlt? Es geht doch immer weiter. Ich muss nach vorn schauen.
»Ja. Hast recht. Ich lauf mal runter«, sage ich.
Mit einem Seufzer gehe ich in die Wohnung meiner Eltern. Ich finde die Pflegerin auf dem Boden kniend vor. Sie sammelt zerbrochenes Glas auf.
»Martina!«, empfängt sie mich. Der verzweifelte Gesichtsausdruck sagt alles. »Deine Mutter hat ein Glas an die Wand geworfen.«
Ich erfahre, dass Tessa meinem Vater die Haare gewaschen hat und nicht gleich zur Mutter gehen konnte, als diese rief. Das war also der Grund, warum sie so ungeduldig wurde. Tessa fängt an zu weinen. Ihre Nerven liegen blank. Ich versuche, sie zu beruhigen.
»Ich spreche mit dem Arzt darüber. Es muss doch etwas geben, das Mutter etwas ruhiger werden lässt«, sage ich.
Mein Vater sitzt noch im Bad. Mit seinen Händen tastet er das Waschbecken ab.
»Vati, suchst du was? Kann ich dir helfen?«, frage ich.
»Ja!«, raunt er. »Ich sehe nichts. Bin ja blind. Wo ist denn mein Kamm?«
Der Kamm liegt genau vor ihm. Erstaunt gebe ich ihm den Kamm. Wie kann das sein, dass er den nicht sieht? Ist er über Nacht völlig erblindet?
»Scheint ja keiner mehr Zeit für mich zu haben«, sagt er. »Mutter ist ja immer wichtiger.«
Ich versuche ihm zu erklären, dass sie krank ist und nichts für ihr Benehmen kann. Und dass es nicht darum geht, auf der Rangliste der Wichtigkeit ganz oben zu stehen.
»Jaja! Ich kann es nicht mehr hören. Immer erzählt ihr mir das Gleiche«, wettert er. »Ich bin auch krank. Aber das interessiert ja kaum jemanden.« Er lacht verbittert auf.
Ich ringe innerlich mit mir. Soll ich ihn fragen, was er hat? Wo es weh tut? Aber will ich nicht lieber nach oben und meinen Kaffee trinken? Doch! Also frage ich ihn nicht, ich schleiche mich fort.
Für meinen Vater wird es immer schwieriger. Offenbar fühlt er sich zurückgesetzt neben seiner schwer kranken Frau. Wie kann ich beiden gerecht werden? Zum ersten Mal denke ich darüber nach, dass eine Trennung meiner Eltern die Situation unter Umständen entschärfen würde.
Am Abend rufe ich meinen Bruder an, der mittlerweile die aufwendige Koordination der Ärzte übernommen hat, und bitte ihn, mit einem der Ärzte zu sprechen. Es muss doch zunächst eine medikamentöse Lösung geben, um unsere Mutter wieder ruhiger werden zu lassen. Er verspricht mir, sich darum zu kümmern, und will sich wieder melden.
Mittags»ruhe«
Durch die Pflegerin Tessa, die mittlerweile einige Monate bei uns ist, hat sich die Lage etwas entspannt. Zumindest was die Betreuung der Eltern betrifft. Die Unzufriedenheit meines Vaters wächst jedoch weiter mit dem Zerfall seiner Frau. Es fällt ihm zunehmend schwerer, noch etwas Positives in seinem Leben zu finden. Obwohl er stets von Tessa umsorgt wird, kann das seinen Groll nicht mindern. Mal ist das Bier zu warm, mal meine Mutter zu laut oder das Mittagessen schmeckt nicht. Wenn ihm gar nichts mehr einfällt, dann schimpft er über die schlecht gelaunten Pfleger, die angeblich nicht sorgsam genug arbeiten. Stets gehe ich seinen Hinweisen nach, um dann festzustellen, dass sie unbegründet sind.
Tessa hat feste Arbeitszeiten, womit alle bislang gut zurechtkamen. Nach dem Mittagessen halten meine Eltern zeit ihres Lebens ein Mittagsschläfchen, was bisher nie mit Schwierigkeiten verbunden war. So kann Tessa von eins bis drei in die Pause gehen. Sie nutzt die Zeit oft für einen Spaziergang oder einen Besuch bei Freunden oder Bekannten. Doch seit geraumer Zeit sind bei meiner Mutter Wach- und Schlafrhythmus durcheinander, was medikamentös noch nicht geregelt ist.
Heute hatte Lena etwas früher schulfrei, und auch ich bin schon gegen ein Uhr nach Hause gekommen. Schnell habe ich uns etwas gekocht, jetzt quälen wir uns mit einer schwierigen Matheaufgabe. Mir raucht der Kopf von den Zahlen. Weder Lena noch ich verstehen, wie der Mathelehrer auf das Ergebnis kam. Leider fehlt auch der Lösungsweg im Heft.
»Warum hast du dir den denn nicht aufgeschrieben?«, schimpfe ich mit meiner Tochter. Sie ist mittlerweile auf dem Gymnasium und braucht meine Unterstützung beim Lernen.
»Hat der nicht an die Tafel geschrieben«, sagt sie und malt kleine Kreise auf die
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