Mutter, wann stirbst du endlich?: Wenn die Pflege der kranken Eltern zur Zerreißprobe wird (German Edition)
Heftseite.
»Kannst du mal damit aufhören?«, fahre ich sie an. »Überleg lieber, was ihr in der Schule besprochen habt!« Ich bin erschöpft von der Arbeit und möchte jetzt gar nicht mit meiner unwilligen Tochter Hausaufgaben machen.
In diesem Augenblick klingen wieder mal laute Stimmen aus dem Treppenhaus zu uns hoch. Es ist halb drei, und ich habe Tessa zu einem Spaziergang aufbrechen sehen.
»Nein! Ich gehe jetzt nicht nach unten!«, sage ich.
»Warum denn nicht?«, fragt Lena ahnungslos.
»Weil es schon wieder Ärger gibt. Ich höre das«, erkläre ich meinen Unmut.
Ich stehe auf und rufe nach Jens, der oben im Büro arbeitet.
»Was gibt’s denn?«, will er wissen.
»Hast du nichts gehört?«, frage ich.
»Nö«, meint er, kommt herunter und holt sich einen Schluck Milch aus dem Kühlschrank.
Inzwischen ist Lena mir und der unangenehmen Matheaufgabe entwischt. Sie ist in ihr Zimmer geflüchtet.
»Lena! Bitte mach jetzt deine Hausaufgaben! Wenn ich aufstehe, heißt das noch lange nicht, dass du fertig bist!«, weise ich sie zurecht.
Schon im nächsten Moment höre ich meinen Vater im Treppenhaus poltern. Es hört sich an, als ob er mit dem Rollstuhl der Mutter herumhantieren würde.
Jens und ich gehen schnell nach unten, um zu sehen, was los ist. Und tatsächlich versucht mein Vater, seine Frau aus dem Haus zu schieben.
»Wo willst du denn hin?«, frage ich. Draußen ist es kalt, und meine Mutter hat weder Jacke noch Mütze an.
»Nur raus! Ich halt es nicht mehr aus mit ihr. Dauernd will sie nach Hause!«, schimpft er. Dabei knallt er immer wieder den Rollstuhl gegen den Türrahmen.
»Kannst du bitte damit aufhören?«, rufe ich und halte den Rollstuhl fest.
Meine Nerven sind bis aufs Äußerste gespannt. Oben die Tochter, die keine Lust auf Hausaufgaben hat, und hier unten der Vater, der gleich durchdreht.
»Du kannst so mit Mutter nicht rausgehen!«
»Ich gehe mit ihr«, beschwichtigt Jens.
Er sieht meinen zornigen Gesichtsausdruck und will mich entlasten. Ich sehe ihn an und bin erleichtert.
»Soll mir recht sein«, sagt mein Vater, dreht sich um und verschwindet in der Wohnung.
»Mutter braucht aber eine Jacke und eine Mütze«, rufe ich ihm nach.
Im gleichen Moment schießt mein Vater wieder aus der Wohnung. Er hält ein paar Anziehsachen in der Hand. Hektisch versucht er, seiner Frau eine Jacke überzuziehen. Er zerrt an ihrem Arm, und als es nicht gleich klappt, weil sie den Arm nicht hebt, wird er extrem ungeduldig. Ich greife nach seiner Hand, damit er aufhört.
»Bitte!«, sage ich, »ich mache das!«
Da nimmt er die Mütze und stülpt sie über ihren Kopf, zieht sie dabei so weit nach unten, dass ihr Gesicht komplett verdeckt ist. Dann dreht er sich um und rauscht davon. Ich bin entsetzt, wie er mit seiner Frau umgeht.
Jens befreit meine Mutter von der Mütze und schiebt den Rollstuhl aus dem Haus.
Mir wird klar, dass mein Vater mit der Situation nicht mehr zurechtkommt. Er ist nervlich am Ende, weil seine Frau den ganzen Tag redet, ruft und fantasiert. Ich folge ihm in die Wohnung.
»Vater, das geht so nicht! So kannst du mit Mutter nicht umgehen«, beginne ich das Gespräch. »Du machst uns alle ganz verrückt mit deinen Aktionen.«
»Du hast ja keine Ahnung, wie das ist, wenn sie die ganze Zeit weg will. Ständig redet sie auf mich ein!«, klagt er.
Wenn meine Mutter sich etwas einbildet, kann man mit vernünftigen Argumenten nichts mehr ausrichten. Weder mein Vater noch ich haben eine Ahnung, wie man mit einem demenzkranken Menschen umgeht. Es scheint, als ob sie sich immer mehr in eine Sache hineinsteigert, wenn man ihr widerspricht. Dann gibt es keine Chance mehr, zu ihr durchzudringen.
Offensichtlich kann mein Vater damit nicht mehr umgehen. Er kann nicht mehr mit meiner Mutter allein sein. Anscheinend hat sie in der Mittagspause mal wieder kaum geschlafen, und er wusste sich nicht mehr zu helfen. Ich möchte auf keinen Fall, dass er diese Stresssituation noch einmal erleben muss, und verspreche ihm, eine kompetente Hilfskraft für mittags zu finden. Die kann sich dann um meine Mutter kümmern, während er seinen Mittagsschlaf macht.
Das hört sich allerdings leichter an, als es ist. Es bedeutet, Gespräche und Gehaltsverhandlungen zu führen, Persönlichkeiten und die nötigen Fähigkeiten zu analysieren. Wer ist wohl bereit, die Aufgabe der Übermittagsbetreuung zu übernehmen?
Resignation
Nach einigen Tagen erhalte ich von der ambulanten Pflegestation die
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