Mutter, wann stirbst du endlich?: Wenn die Pflege der kranken Eltern zur Zerreißprobe wird (German Edition)
einem Umzug immer herrscht, in den Griff zu bekommen. Die ersehnte Erleichterung will sich jedoch nicht einstellen. Wir sind alle etwas schlecht gelaunt, weil keiner irgendetwas findet in den Kartons, die in allen Zimmern unausgepackt herumstehen. Dabei habe ich mir das so toll vorgestellt, endlich im neuen Haus zu wohnen.
Doch Jens tröstet mich. »Warte doch noch ein paar Tage ab. Wir kriegen das in den Griff. Schon nächstes Wochenende sieht alles anders aus«, sagt er.
Tatsächlich hat er recht. Zwei Wochen später hat vieles seinen Platz gefunden. Sogar Jacko hat sich mit der Ecke für seinen Korb angefreundet. Zufrieden liegt er vor der Tür und döst vor sich hin, während ich die wunderschöne neue Küche putze und das restliche Geschirr einräume. Ich habe mir extra freigenommen, um ein paar Dinge zu erledigen. Ich bin allein. Jens ist unterwegs und Lena in der Schule. Draußen scheint die Sonne und schickt ihre Strahlen zu mir ins Haus. Genau so, wie ich es mir immer gewünscht habe. Schnell setze ich einen Kaffee auf, um mir eine Pause zu gönnen.
Doch plötzlich überkommt mich eine unendliche Traurigkeit. Die Kaffeekanne stelle ich auf die Platte zurück und schaue aus dem Fenster. Etwas nimmt von mir Besitz und katapultiert sich in mein Gehirn. Mutter! Oh Gott, Mutter! Ich rutsche an der Küchenwand auf den Boden hinunter und kann es nicht mehr zurückhalten. Ein einziger Gedanke beherrscht mich: Nie wird meine Mutter diese Küche sehen! Nie! Nie werde ich ihr dieses Haus zeigen können. Nie mehr wird sie begreifen, dass ihre Tochter jetzt in einem eigenen Haus wohnt. NIE MEHR! Sie sitzt tausend Meter von mir entfernt in ihrem Rollstuhl, und ich sitze hier in meiner Küche, die ich einen Augenblick zuvor noch so schön fand. Alles erscheint mir so falsch. Meine Mutter ist tot, und doch lebt sie noch, schreit es in mir.
Eine unendliche Traurigkeit macht sich in mir breit, und ich weine, bis ich keine Luft mehr bekomme. Ich will um sie trauern, aber ich kann nicht. Sie lebt noch. Doch was für ein Leben ist das?
Auf einmal finde ich nichts mehr schön. Nicht die Küche und nicht das Haus. Nichts ist gut, auch wenn ich ausgezogen bin. Wie naiv ich doch war. Wie kann alles gut werden, wenn meine Eltern in diesem Zustand weiterleben müssen? Es wäre auch zu einfach gewesen. Ausziehen und alle Probleme sind weit weg. Ich bin weggegangen und habe sie allein zurückgelassen. Habe ich auch wirklich alles versucht? Hätte es nicht noch einen anderen Weg gegeben?
Was für eine Enttäuschung für mich! Seit Monaten habe ich mich an den Gedanken geklammert, dass der Umzug die gewünschte Befreiung bringen wird. Eine Befreiung von der gefühlten Schuld und dem schlechten Gewissen, das ich ständig mit mir umhertrage. Und nun bin ich immer noch gefangen in der trostlosen Welt meiner Eltern.
Diese Erkenntnis lässt mich noch mehr weinen, jetzt kommt sogar noch eine große Portion Selbstmitleid dazu. Ich fühle mich hintergangen und ohne Hoffnung. Es wird nie aufhören, denke ich, nie. Ich hätte viel weiter wegziehen müssen. Alles erscheint mir plötzlich so sinnlos, und nicht das erste Mal habe ich das dringende Bedürfnis, Schluss zu machen. Schluss mit meinem Leben, das ich nicht mehr steuern kann. Auf dessen Verlauf ich keinen Einfluss habe. Doch wie immer denke ich in diesem Moment an meine Tochter und meinen Mann und greife schnell zum Telefon.
»Jens!«, schluchze ich in den Hörer. »Mir geht’s so beschissen!«
Er ist erschrocken über meinen Zustand, so hat er mich noch nicht erlebt.
»Maus, was ist denn los?«, fragt er besorgt.
Ich versuche, ihm meine Gefühle zu beschreiben. Meine Enttäuschung über das fehlende Glück. Meine Wut über den Kontrollverlust in meinem Leben. Wahrscheinlich versteht er die Hälfte gar nicht, weil ich immer wieder schluchzen muss.
»He, he!«, sagt er sanft. »Halt durch, ich komme gleich heim. Bin noch bei einem Kunden, aber ich kann in einer Stunde da sein. Wir kriegen das hin. Okay?«
Klar, wir kriegen das hin. Wir haben schon so viel hingekriegt, aber oft auch Federn dabei gelassen. Dennoch, seine Stimme tut mir gut, und ich beruhige mich. Unser Hund gesellt sich zu mir. Er legt sich direkt neben mich und sucht Körperkontakt. Dieser treue Hund hat genau bemerkt, dass sein Frauchen Trost braucht. Ich wühle meine Hände in sein Fell und lege meinen Kopf an seine Schulter. Sein Geruch und die Tatsache, dass Jens gleicht kommt, sorgen dafür, dass ich langsam
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