Mutter, wann stirbst du endlich?: Wenn die Pflege der kranken Eltern zur Zerreißprobe wird (German Edition)
nichts mehr. Im nächsten Moment beginnt er schon wieder zu meckern.
Vielleicht hätte ich ihm auch sagen sollen, dass keine Familie so leben will wie wir – mit der täglichen Belastung durch die Krankheit von Mutter, der wir ausgesetzt sind. Aber was hätte mir das gebracht? Ich hätte ihn verletzt, und doch hätte er nichts ändern können. Er ist jetzt wie er ist. Seine Depression, sein Schlaganfall und das langsame Sterben seiner Frau haben ihn zu einem anderen Menschen gemacht. Da kann man nicht sagen: Reiß dich doch zusammen!
Aber ich kann für mich festlegen, dass sein Schicksal nicht meines sein muss. Wir lügen uns also gegenseitig an, und jeder weiß ganz genau, was der andere denkt und warum. Es wird jedoch unausgesprochen bleiben – bis zum Schluss.
Nachdem ich ihm gesagt habe, dass wir ausziehen, ist mein Vater nicht mehr gut auf mich zu sprechen. Persönlich lässt er sich nichts anmerken, aber wie ich unter anderem von der Pflegerin erfahre, schimpft er ungeniert über mich. Er sagt Dinge wie »Kinder lohnen sich nicht« oder »Wenn du sie mal brauchst, hauen sie eh ab«. Seine Wut und seinen Frust hat er nicht mehr im Griff. Ich kann das nicht ignorieren. Ich kann es auch nicht wegstecken. Mein Zorn auf ihn wächst von Tag zu Tag.
Es ist Sonntag. Und wie an den meisten Sonntagen kommt mein Bruder zu Besuch. Er verbringt den Nachmittag mit den Eltern. Heute sitzen sie auf der Terrasse unter mir. Mit dem Plan für das Haus unterm Arm will ich ihn kurz etwas fragen. Er ist vom Fach und kann mir vielleicht ein paar Tipps geben.
Kaum betrete ich die Terrasse, verfinstert sich das Gesicht meines Vaters, doch schon im nächsten Moment lächelt er und begrüßt mich. Ich nehme mir einen Stuhl und setze mich dazu. Nach ein paar Höflichkeitsfloskeln zeige ich meinem Bruder meinen Plan und stelle meine Fragen, die er auch gern beantwortet. Vielleicht ein bisschen zu ausführlich, denn mein Vater scharrt schon mit den Füßen. Wir machen eine Unterbrechung und unterhalten uns mit ihm. Nach einer Weile kommen wir noch einmal auf das Thema zurück, was meinem Vater überhaupt nicht passt. Es vergehen keine zehn Minuten, als er aufsteht und zum Rollstuhl unserer Mutter schlurft. Sie saß die ganze Zeit ruhig da und ist immer wieder mal eingeschlafen.
Mein Vater rüttelt am Rollstuhl und ruft: »Nicht schlafen! Hallo, du da!«
»He!«, ruft mein Bruder sanft. »Was machst du denn, Vater?« Dann wendet er sich mir zu. »Ich glaub, wir müssen jetzt aufhören. Dem Vater passt das nicht«, meint er.
Da könnte ich drauf wetten, denke ich. Es passt ihm nicht, dass er für einen Moment nicht im Mittelpunkt steht. Was hat er schon alles gemacht, um die volle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen! Wieder fühle ich mich wie ein Mensch ohne Rechte. Ich wollte doch nur kurz über mein Hausprojekt reden.
Ich erinnere mich an eine besonders verrückte Situation. Es ist ungefähr ein halbes Jahr her, da spricht mich plötzlich unser Nachbar auf der Straße an.
»Ich hab Ihren Vater heute gesehen. Er ist mit vorgestreckten Händen über die Hauptstraße gegangen. Dann hat er sich auf eine Bank gesetzt und den Kopf auf die Arme gestützt«, erzählt er und wirft mir einen besorgten Blick zu. »Ich bin stehen geblieben und habe ihn gefragt, ob ich ihm helfen kann«, fährt der Nachbar fort. »Aber er meinte, er schaffe das schon. Er komme gerade vom Arzt und gehe jetzt langsam nach Hause. Stimmt es, dass Ihr Vater blind ist?«
Auweia! Was hat er denn da wieder erzählt? Kein Wunder, dass der Nachbar mir Vorwürfe macht: »Wie können Sie Ihren Vater allein zum Arzt gehen lassen! Wieso fahren Sie ihn denn nicht? Ich könnte das auch übernehmen, wenn Sie wollen.«
Wie soll ich ihm erklären, dass mein Vater sehr wohl mit dem Auto hätte gefahren werden können, hätte er mich nur gefragt. Aber er will ja gesehen werden. Es sollen alle sehen, wie schlecht es ihm geht. Besser hätte es für ihn nicht laufen können, als dass der Nachbar ihn anspricht.
Wieder zeigt sich, wie sehr mein Vater um die Aufmerksamkeit der anderen kämpft. Er kann sich einfach nicht damit abfinden, dass meine Mutter sich nicht mehr um ihn kümmern kann. Und so richtig verstehen kann ich das nicht. Denn nicht nur ich, die er ja täglich trifft, sondern auch seine beiden Söhne, die ihn regelmäßig besuchen, und die Pflegerinnen kümmern sich um ihn. Er ist nie allein, hat immer Ansprache und bekommt alles, was er braucht. Es ist nicht genug.
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