Mutter, wann stirbst du endlich?: Wenn die Pflege der kranken Eltern zur Zerreißprobe wird (German Edition)
mich. Er wird niemals zulassen, dass ich mein Leben normal leben kann, während seines in die Brüche geht. Auch wenn es sein kranker Geist ist, der dies tut – er will mich mit nach unten ziehen. Seine ganzen unbegreiflichen Aktionen, die ausschließlich darauf abzielen, eine chaotische Situation herbeizuführen, veranstaltet er, um mich mit ins Boot zu holen. Diese Erkenntnis dringt in die Tiefe meines Gehirns und lässt mich nicht mehr los: Er tut dies mit Absicht! Mit voller Absicht stört er mein Leben.
Als ich das erkenne, weiß ich, dass ich ihm nicht so helfen kann, wie ich es ursprünglich dachte. Nie wird er zufrieden sein mit dem, was ich als Tochter anzubieten habe. Er erwartet von mir, dass ich sein Leben in die Hand nehme und mich für ihn aufopfere. So wie es meine Mutter einst getan hat. Ich ahne, dass er mich in ihre Rolle zu drängen versucht, dass er mich als Ersatz für meine Mutter sieht – meine Mutter, die ihm immer alle Wünsche und Sorgen von den Augen abgelesen hat, die immer wusste, was er brauchte, ohne dass er es je sagen musste. Aber ich weiß nicht, was er braucht, denn ich bin nicht meine Mutter.
Mir wird klar, dass es nie aufhören wird. Im Gegenteil. Mein Vater wird immer mehr versuchen, auf sich aufmerksam zu machen. Und solange ich in diesem Haus wohne, kann ich mich nicht wehren.
Es gibt nur noch einen Weg: Wir müssen ausziehen!
Ein neuer Anfang
In der darauffolgenden Woche schreibe ich eine Mail an den Bürgermeister im Ort. Ich weiß, dass es seit einiger Zeit Grundstücke gibt, die die Gemeinde verkauft. Vielleicht ist noch eines davon frei, und wir können uns ein Haus darauf bauen.
Am Abend erzähle ich Jens von meiner Idee.
»Ein Haus bauen?«, fragt er erstaunt. »Bist du sicher, dass wir das schaffen können?«
Nein, das bin ich nicht. Aber ich bin sicher, dass ich es in diesem Haus nicht mehr aushalten kann.
»Ein Haus zu bauen kann so schwer nicht sein. Haben ja andere auch schon gemacht«, entgegne ich.
Jens lacht. »Das sieht dir ähnlich. Mal schnell ein Haus bauen. Und was wird aus diesem Haus hier?«, will er wissen.
»Das überlegen wir dann, wenn es so weit ist. Ich will jetzt nicht schon wieder über die Eltern und ihr Haus nachdenken. Mein Vater hat in den vergangenen Wochen so einen Terror gemacht, dass ich denke, wir müssen hier weg. Und ich glaube, dass es noch schlimmer wird mit ihm.«
Kurz erzähle ich ihm von meinen Gedanken über meinen Vater und welche Zusammenhänge ich vermute. Ich finde meinen Plan genial. Eine Strategie, wie ich es meinem Vater erkläre, habe ich auch schon. Ein Auszug käme einer Flucht gleich, ein Haus zu bauen kann ich besser erklären. So ganz egal ist es mir ja doch noch nicht, was er über mich denkt.
Schon am nächsten Tag bekomme ich eine positive Antwort vom Bürgermeister. Er lädt mich zu einem Gespräch ein und will mir die freien Grundstücke zeigen.
Und von dem Moment an geht alles sehr schnell. Ein Termin bei der Bank sichert die Finanzierung. All unser Geld wird flüssig gemacht und in Eigenkapital umgewandelt. Es ist, als ob der Teufel hinter mir her wäre. In einem rasanten Tempo stelle ich die Finanzierung auf die Beine und finde einen passenden Bauleiter. Täglich lese ich im Internet alles, was über Hausbau zu finden ist. Nachdem ich mich jahrelang mit Altenpflege und den verschiedenen damit einhergehenden Krankheiten beschäftigt habe, blühe ich in diesem Thema richtig auf. Mein Studium ist abgeschlossen, so habe ich an den Abenden wieder Zeit.
Kurz bevor wir zum Notar fahren, um den Kaufvertrag zu unterschreiben, informiere ich meinen Vater über unser Vorhaben. Mein Hauptargument ist, dass wir uns die Chance, ein günstiges Grundstück von der Gemeinde kaufen zu können, nicht entgehen lassen sollten.
»Du weißt doch selbst, was so ein großes Haus wie das eure kostet. Wir können uns die Renovierung vielleicht gar nicht leisten. Besser ist, wir bauen ein kleineres nach den neuesten Energierichtlinien. Es ist nur noch ein Grundstück frei, und wir wollen uns die Chance nicht entgehen lassen.«
Mein Vater nickt und fragt, wo das Grundstück sei. Es hat den Anschein, als würde er mich verstehen, gleichzeitig sehe ich in seinem Blick, dass er ganz genau weiß, warum wir ausziehen wollen.
Vielleicht hätte ich ihm die Wahrheit sagen sollen. Dass ich nur seinetwegen gehe, weil ich den täglichen Psychoterror nicht mehr aushalte. Da nützen auch die nett gemeinten Worte von ihm zwischendrin
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