Muttergefuehle
Muttistrudel. Ich habe Angst, dass alles immer so bleibt, dass ich nur noch übers Kind rede, wetterfeste Kleidung trage, in Etappen schlafe und nichts anderes mehr mit dem Mann mache, als zu planen, wer wann das Kind nimmt, damit der andere arbeiten kann. Und wenn dann noch das Kind mit Essen wirft, obwohl ich »schon tausendmal gesagt habe«, dass er das nicht soll, obwohl ich nie so etwas sagen wollte wie »Ich habe schon tausendmal gesagt«, wenn der Mann schon wieder länger arbeiten muss und ich mich in meiner Familie fühle wie Aschenputtel, wünsche ich mir sehnsüchtig mein altes Leben zurück. Vor dem Kind konnte ich so herrlich gedanken- und verantwortungslos sein. Ich bin total übermüdet nachts Auto gefahren und habe dabei Kette geraucht, ich bin nach einem harmlosen Abendessen mit Freunden schlimm versackt, und an manchen Tagen bin ich nur aus meinem Bett aufgestanden, um den Lieferservice reinzulassen.
Und auch wenn es absolut nicht so ist, dass ich meinen Sohn loswerden will, manchmal würde ich mich so gern vor dieser allgegenwärtigen Verantwortung davonschleichen. Manchmal habe ich es so satt, dass ich mir, seit ich Mutter bin, um alles viel zu viele Sorgen mache, immer an morgen denke und alles plane. In diesen Momenten träume ich mich in mein altes Leben und könnte mich gleichzeitig mit einem sehr großen Fisch dafür ohrfeigen. Weil ich mich wegträume, anstatt einfach mal meine Bedürfnisse zu äußern und Forderungen zu stellen. Das Kind hat zwar mich und die Begleitumstände verändert, aber das heißt ja nicht automatisch, dass nichts mehr geht. Der Mann macht mir regelmäßig vor, wie einfach das ist: Er teilt mir mit, dass er etwas unternehmen möchte, wir gucken, ob das zeitlich geht, und dann macht er es eben. Wenn ich etwas unternehmen möchte, denke ich: »Hm. Diese Woche? Schlecht. Das Kind hatte so Augenringe heute, es wird morgen bestimmt krank, und wenn der Mann dann länger arbeiten muss, müsste ich die Verabredung eh absagen. Da lasse ich es doch lieber gleich. Überhaupt, es ist so gemein, dass der Mann machen kann, was er will, weil ich ja immer da bin und auf alle Rücksicht nehme, und wenn ich einmal was machen will, dann geht es wieder nicht. Mein Leben ist scheiße.«
Gemerkt? Innerhalb von nicht mal einer Minute habe ich ein Bedürfnis verspürt, mir selbst den Verzicht auferlegt, um sofort anderen beleidigt die Schuld daran zu geben, dass ich immer verzichte. Kann bitte noch einmal jemand den Fisch bringen? Oder einen Edding 800, damit ich mir hinter die Ohren schreiben kann, dass ich bei Sehnsucht nach früher einfach etwas machen muss wie früher. Und das geht eigentlich ganz einfach: Mund aufmachen, Wunsch äußern und los. Will ich zum Beispiel wie früher mal lange am Stück schlafen, übernimmt der Mann die Nachtschicht oder lässt mich ausschlafen. Will ich mal wieder ausgehen und mich besaufen, passt er aufs Kind auf UND lässt mich ausschlafen. In den meisten dieser Fälle bin ich abends vor elf wieder zu Hause und morgens vor acht Uhr wach. Aber manchmal hüpfe ich noch um drei mit meiner besten Freundin auf der Tanzfläche eines Gitarrenschuppens zwischen Halbstarken herum, wir reißen die Arme hoch, wenn unsere Lieblingslieder gespielt werden, und grölen laut mit. Dann ist mir völlig egal, dass die halbe Tanzfläche sich fremdschämt, dass ich am nächsten Morgen um sieben aufwachen werde und nicht mehr einschlafen kann oder dass ich den lieben Tag lang keine Chance bekommen werde, meinen Kater auszukurieren. Dann knutsche ich meine Freundin ab und bin endlich mal wieder so verantwortungslos wie früher.
Will ich mein altes Leben zurück, dann …
• … stelle ich mir vor, wie mein Leben weitergegangen wäre, wenn ich Mann und Kind nicht hätte – und finde das sehr trostlos.
• … versuche ich, meine Bedürfnisse klar zu artikulieren, damit der Mann und ich absprechen können, wie ich Familienabstand gewinnen kann.
• … unternehme ich so lange Dinge, bis ich merke, dass sich das alte und das neue Leben gar nicht unbedingt ausschließen. Das kann genauso eine Feiernacht oder ein Konzert mit der besten Freundin sein wie ein Plattenladenkonzert oder eine Städtereise mit dem Kind.
Pass auf! Nimm mich an die Hand! Nein! Vorsicht!
Die Angst, weil immer überall alles passieren kann.
Früher konnte ich mir nicht vorstellen, dass man mit einer Zahnbürste in der Hand so unglücklich hinfallen kann, dass sie durch die Nase direkt ins Hirn
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