Muttergefuehle
sticht. Heute ist das eine meiner leichtesten Übungen. Jeden Tag geht meine Fantasie aufs Neue mit mir durch:
Ziehe ich meinem Sohn seinen Pulli aus, stelle ich mir vor, wie ein Knopf in seinem Augenlid hängen bleibt und es abreißt. Beim Fahrradfahren befürchte ich, den Gurt nicht richtig zugemacht zu haben, so dass mein Sohn auf die Straße kippt und vor meinen Augen von einem Tanklaster überfahren wird, und im Supermarkt sehe ich hinter jedem Gesicht ein durchgeknalltes Psychopathenhirn, das nur darauf wartet, sich mein Kind zu schnappen und es als sein eigenes Kind großzuziehen (und das auch noch nach völlig falschen Methoden).
Ich habe vor allem Angst, oft völlig ohne Grund. Nach der Geburt zum Beispiel bin ich monatelang jede Nacht panisch aufgewacht, weil ich dachte, mein Sohn wäre weg. Denn obwohl er nie dort geschlafen hat, dachte ich wirklich jede Nacht aufs Neue, er müsste in unserer Mitte liegen. Wo er nie war, weil er, wie immer, in seinem Bett lag. Den Höhepunkt fand diese Wahnvorstellung im Urlaub, als mein Sohn etwa acht Monate alt war. Mein Mann und ich lagen im Bett und schliefen. Ich bin plötzlich aufgewacht, suchte wie immer das Kind in unserer Mitte und bekam einen Riesenschreck, denn wenn das Kind zwischen uns schlief, musste der Mann direkt auf unserem Kind liegen. Ich kreischte panisch und versuchte verzweifelt, ihn wegzurollen. Mein schlaftrunkener Mann verstand nicht, warum seine kleine Frau wie von Sinnen an ihm zerrte. Zum Glück wurde ich schnell richtig wach, verstand die Situation und erklärte sie meinem Mann, der hellwach antwortete: »Nee, nee, so liege ich gar nicht. Gerade erst habe ich gelernt, wie man richtig liegt, nämlich so.« Und dann wühlte er im Bett herum und führte mir seine neu erlernte Liegeposition vor. Bitte was? Jetzt wusste ich zwar, dass es meinem Kind gut ging, aber stattdessen war mein Mann verrückt geworden. Ich also: »Mann, du schläfst noch und redest wirres Zeug!« Er: »Nee, ich weiß jetzt, wie man richtig liegt.«, und zeigt es mir gleich noch einmal.
Ja, ich hatte immer Angst. Hatten andere meinen Sohn auf dem Arm, befürchtete ich, dass sie auf ruckartige Bewegungen von ihm nicht vorbereitet waren, sein Oberkörper nach hinten kippt und er in der Mitte durchbricht. Als er ein paar Wochen alt war, balancierte mein Mann ihn auf seinem Unterarm, so wie man das auf diesen total süßen Postern von halb nackten Männern und Babys immer sieht – und ich bin total ausgeflippt vor Panik, das Kind könnte herunterfallen. Das Ganze spielte sich keine zehn Zentimeter vom Boden ab.
Und wem ist der erste echte Unfall passiert? Natürlich mir. Als er ungefähr drei Monate war, habe ich ihm das Ellenbogengelenk ausgehakt. Ich habe ihn vom Liegen ins Sitzen gezogen, und dabei ist es passiert. Sein linker Arm hing reglos runter, und er brüllte wie am Spieß. Auf dem Weg ins Krankenhaus habe ich mehr geweint als er, und als er einschlief, dachte ich an die Kriegsfilme, in denen es das Todesurteil bedeutet, wenn Verletzte einschlafen, und habe wirklich so etwas gesagt wie: »Bleib bei mir, Hasenkind.« Im Krankenhaus waren im Gegensatz zu mir alle entspannt: »Ja, ja, Chassaignac-Lähmung, passiert andauernd, gleich tut’s noch einmal weh, und dann hat er’s auch schon vergessen.« So war’s dann auch. Als sie wieder alles an Ort und Stelle gedrückt haben, schrie er noch einmal auf, und gleich danach hat er auf der Behandlungsliege schon wieder gelacht. Ich nicht. Ich hatte Schuldgefühle und Albträume. Und wenn ich aus den Albträumen hochschreckte, kam gleich der nächste Schreck, weil ich ja immer noch dachte, mein Kind sei weg, weil es nicht zwischen mir und dem Mann lag.
Das Schlimmste kommt aber erst noch, denn in diesem ganzen Text war ich noch nicht einmal mit dem Kind auf dem Spielplatz oder zu Fuß in der Stadt unterwegs, dabei kriege ich es nämlich erst richtig mit der Angst zu tun. Das einzig Gute an meiner Angst ist, dass ich, wie mir Freunde bescheinigten, halbwegs lässig dabei aussehe und man mir nicht unbedingt anmerkt, dass mein Herz sich gar nicht mehr die Mühe macht, wieder aus der Hose nach oben zu rutschen.
Und manchmal sehe ich nicht nur lässig aus, sondern bin es auch. Das sind nur leider oft genau die Momente, in denen tatsächlich etwas passiert. Als der Mann und ich einmal entspannt frühstückten, zum Beispiel, tingelte der Sohn durch das Wohnzimmer und fing plötzlich an zu weinen. Wir hatten es nicht rumsen
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