Mutterschuldgefuehl
dass mein Kind mir jetzt schon sein volles Potenzial zeigt, seine Begabungen, Anlagen und Talente, dann kann ich schon mal unruhig werden, wenn andere
schneller laufen, hüpfen, springen und begreifen. Und diese Unruhe kann sich bis zur ausgewachsenen Panik steigern, wenn die Kinder in die Entwicklungsphase der frühkindlichen Aggression kommen. Denn dann stelle ich mir flugs die Frage: Ist mein Kind nun lebenslang Opfer oder ein Verbrecher von morgen?
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Der Junge in Windeln läuft schnell heran und schaut neugierig in das Gesicht des Mädchens mit der bunten Hose. Sie hat auf der Wange ein groÃes, sehr interessantes Muttermal. Er greift neugierig zu - und drückt. Kräftig. Die Kleine stöÃt wutentbrannt einen spitzen Schrei aus und - zack - schon hat sie dem Kleinen ihre scharfen Fingernägel über die Wange gezogen. Ein kleines Rinnsal Blut glitzert im Licht. Er brüllt wie am SpieÃ, sie starrt ihn erbost an. Ihre Körperhaltung ist eindeutig: Komm näher und ich mach dich alle!
Wären die beiden 15 Jahre älter, wären alle begeistert, zumindest von ihr. So eine starke Frau. Jetzt sind sie es nicht. Aufgebracht starrt die Mutter des Jungen die Mutter des Mädchens an.
Die grinst unbefangen.
»Mensch«, sagt sie. »Da muss man ja richtig aufpassen!«
»Allerdings! Du hast dein Kind nicht im Griff«, schreit die Mutter des Jungen. »Du passt überhaupt nicht auf.« Verblüfft starrt die Angegriffene zurück. Wie soll sie das Kind denn im Griff haben, wenn sie es nicht im Arm hat? Und was ist mit ihr selbst, der anderen Mutter? Ihr Sohn hat doch schlieÃlich angefangen.
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Diese kleine Szene kommt harmlos daher, beinhaltet aber eine ganz neuartige Definition von Mutterschaft. Sie zeigt: Wir Mütter haben uns weiterentwickelt, jawohl! Wir geraten nicht mehr nur in Wallung, wenn unser Kind von anderen attackiert wird. Nein, viele von uns ärgern sich jetzt auch, wenn eine andere Mutter ihr Kind nicht jederzeit so sorgfältig und lückenlos beobachtet, dass solche körperlichen Attacken von vornherein gar nicht vorkommen können. Soziale Kompetenz lernen hin oder her - immer mehr Mütter erwarten
von anderen Müttern, dass sie ihr Kind jederzeit »im Griff« haben. Und zwar bevor die Kinder sich aufmachen, solch unerfreuliche ZusammenstöÃe zu haben.
Das wilde Ego
Prekärerweise gibt es in Mutter-Kind-Gruppen einen kleinen, feinen Unterschied zu den Meetings, die Erwachsene sonst so abhalten. Das Thema ist keine Sache, keine Firmenposition, man spricht nicht über Zahlen oder Fakten und auch entgegen den verbreiteten Vorstellungen nicht über Projekte, sondern das Thema ist immer und überall das eigene Fleisch und Blut. Da gibt es so etwas wie den natürlichen Beschützerinstinkt und eine gewisse mangelnde Objektivität. Selbst einander wohlgesonnene Mütter können in heller Aufregung aufeinander losgehen, wenn sie ihr Kind bedroht sehen. Das eine oder andere nett geplante Zusammentreffen von Müttern und Kindern endet im Eklat, weil die Kinder sich partout nicht verstehen wollen. Wild, ungeschminkt und kompromisslos kommen sie zutage, die Aggressionen und Antipathien zwischen den lieben Kleinen in dieser frühkindlichen Phase. Das kann sehr irritierend sein für Mütter, die eigentlich dachten, das Wesen ihrer Kinder gut zu kennen und planen zu können. Die dachten, Kinder fänden es schön, mit anderen Kindern zu spielen.
Kinder sehen aber für lange Zeit in anderen Kindern keine Busenfreunde, sondern Konkurrenten. Es kann wirklich schaurig werden, wenn die lieben Kleinen ihr Ego entdecken und wild entschlossen sind, spontanes Eigentum mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Da sind die Vorwitzigen, die schon früh ihrem Babykollegen die Schaufel über die Stirn ziehen, und da sind die, die hilflos brüllen. Da sind die Mütter, die entsetzt zusehen, wie sich die Kinder Miniaturschlachten liefern, mit echten Tätern und blutenden Opfern. Da sind groÃe Tumulte und wüste Schuldzuweisungen unter Müttern, denn zu allem Ãbel sind die Kinder nicht alle zur gleichen Zeit in der gleichen Phase, sodass es mal die einen,
mal die anderen wären, die Lehrgeld zahlen. Nein, ungünstigerweise sind die einen eher aggressiver als die anderen, bis diese sich dann so weit entwickelt haben, dass sie für ihr Ego kämpfen wollen. Das kann Monate, ja in manchen
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