Muttersohn
Fahrt nach Ulm kein Wort. Fred spielte wieder Wagner. Aber leise. Er fand die Klinik. Fräulein Hedwig lag in einem Zweibettzimmer. Auf dem Kopf eine vielfarbig-gestrickte Wollmütze, um die durch die Therapie bewirkte Haarlosigkeit zu verdecken. Percy ging schnell zu ihr hin, setzte sich auf den Bettrand und nahm ihre Hände, die auf der Bettdecke lagen, in seine Hände. Und schaute Hedwig an. Sie schaute ihn an. Von ihrem Gesicht waren nur noch die Augen übrig geblieben. Aber sie sahen Percy so an, dass er spürte, von Fräulein Hedwig ging eine Kraft aus. Sie anschauend, fühlte er sich durchströmt. War es eine Temperatur? Eine Heftigkeit. Auf jeden Fall konnte er ihre Hände nicht mehr loslassen und musste in ihrem Blick bleiben. Er steigerte den Händedruck ein wenig. Und sagte: Hedwig. Und noch einmal, noch leiser: Hedwig. Er spürte selber, dass er, was er von ihr bekam, zurückgeben musste.
Dass die Frau im anderen Bett ununterbrochen redete, störte nicht. Die glaubte, weil Hedwig und Percy nicht redeten, die beiden hätten einander nichts zu sagen, und forderte Percy auf, dass er sich um sie kümmere. Hedwig sei erstens sowieso eine Heilige und halb im Jenseits sei sie auch schon, während sie, Christa Bertsch, garantiert in die Hölle komme, also überhaupt nicht sterben dürfe. Hören Sie! Hören Sie mich! Mein Name ist Christa Bertsch! Vier Kinder von fünf Männern. Und keins kümmert sich um mich. Ich weiß, Sie können mir helfen. Hedwig hat mir alles erzählt über Sie. Hören Sie mich?
Percy sagte: Ja. Nachher. Gern. Er sah sie an. Frau Bertsch war dann tatsächlich still.
Percy sagte jetzt Hedwigs Namen nur noch mit Lippenbewegungen. Hedwig sagte mit Lippenbewegungen: Ja, Percy, ja.
Dass sie sich so verständigten, bewirkte eine Nähe, die durch Wörter kaum zu erreichen ist. Irgendwann verstärkte er den Händedruck noch einmal und gab ihr ihre Hände zurück. Seine Lippen sagten: Bis morgen, Hedwig.
Bis morgen, Percy, sagte sie genauso tonlos.
Er sah zu Frau Bertsch hinüber, sie war eingeschlafen.
Jeden Tag musste Fred ihn nach Ulm in die Klinik fahren. Fred musste drunten warten. Wenn Percy im Zimmer 212 erschien, hörte man zuerst nur Frau Bertsch. Percy ging jedes Mal zu ihr hin und sagte, er werde wirklich zu ihr kommen, sobald er mit Fräulein Hedwig ein wenig weiter sei. Frau Bertsch war dann immer still. Hedwig rechnete mit ihm, das spürte er. Immer waren dann ihre Hände in seinen Händen. Er sagte jeden Tag etwas mehr. Nur mit den Lippen. Und sie las, was er mit den Lippen sagte. Was sie sagte, sagte sie auch nur mit den Lippen. So kam es zwischen ihnen zu einer Aufmerksamkeit, die für beide neu war. Was sie so zu einander sagten, war weniger wichtig, als dass sie es sagten und dass sie einander täglich mehr sagten. Er sagte: Ich werde so lange zu dir kommen, bis es dir bessergeht.
Und sie: Wenn du kommst, geht es mir besser.
Und er: Wenn ich gehe, bleibe ich doch da.
Sie: Das spür’ ich.
Er: Bis morgen, Hedwig.
Und sie: Heute ist morgen, Percy.
Einen Tag später konnte er sagen: Du bist kräftiger als gestern.
Und sie: Stimmt.
Er: Du wolltest immer aufrecht im Bett sitzen und bist immer ein bisschen heruntergerutscht. Heute rutschst du gar nicht mehr.
Und sie: Die Kraft von dir.
Er: Ich krieg’ von dir mehr als du von mir.
Sie: Es ist nicht nötig zu sterben.
Und er: Hedwig, belehr mich ein bisschen.
Sie: Der Pfarrherr sagt, es gibt keine Belehrung.
Er: Sondern?
Sie: Erleuchtung.
Er: Das war jetzt eine Belehrung.
Hedwig lächelte. Das erste Mal. Percy spürte, dass er sich jetzt ganz in seine Hände, die ihre Hände hielten, geben musste. Und sagte dazu: Als er zum ersten Mal ins Pfarrhaus gekommen sei, um für die Lebensrettung zu danken, da habe Hedwig ihn auch in den Pfarrhausgarten geführt, habe auf die Hühner gezeigt und gesagt: Seine Hennen legen ganz gut. Als Percy zwei Jahre später wieder zu Besuch war, habe sie, wieder im Pfarrhausgarten, gesagt: Unsere Hennen legen ganz gut. Und letztes Jahr, an der gleichen Stelle: Meine Hennen legen ganz gut.
Jetzt lachte Hedwig zum ersten Mal richtig.
Am nächsten Morgen, bevor sie nach Ulm aufbrachen, traf ein Brief ein. Von Sandra. Percy ging in den Pfarrgarten und las.
Lieber Percy,
schwerer kann nichts sein, als Dir zu schreiben, was ich Dir schreiben muss. Ich schreib es Dir in einem einzigen Satz: Ich kann nicht verlassen werden. Das ist das Einzige, was in mir unauslöschlich geblieben
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