Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
Vom Netzwerk:
ist: Elsas Leid. Zweimal. Mir wäre auch einmal zu viel. Das spür ich. Das weiß ich. Gefühl wird bestraft. Davor schützt keine Stimmung. Kein Schwur. Also zurück nach München. Ins Archiv. Zur Arbeit. Was zu sagen wäre, kannst Du Dir auch selber sagen. Dass ich diesen Brief nicht gern schreibe, habe ich schon gesagt. Und ich könnte nichts als diesen Satz wiederholen. Schützen wir uns.
    Es grüßt Dich Sandra.
     
    Er kam zurück, Fred fragte: Was ist jetzt los?
    Percy: Wenn du jetzt sagst, das muss in den Film, dann bring ich dich um. Und das ist ernst. Komm, fahren wir.
    Im Zimmer 212 lag nur noch Hedwig. Frau Bertsch sei nachts geholt worden. Und nicht mehr zurückgebracht. Das heißt, sagte Percy, sie ist gestorben. Hedwig nickte. Und legte ihre Hände so auf die Decke, dass er sie hätte in seine Hände nehmen können. Aber er konnte nicht.
    Sie ist unvorbereitet gestorben, sagte Hedwig. Ich bin vorbereitet. Der Klinikgeistliche hat es gemacht.
    Ich vermisse Frau Bertsch, sagte Percy. Dass sie uns stören wollte, hat uns zusammengebracht.
    Sie drückte seine Hände.
    Jeder hätte Frau Bertsch helfen können, sagte er. Heute … Und konnte nicht weitersprechen. Hedwig drückte seine Hände.
    Es gibt nichts, sagte er, das durch das, was ich dir nicht sagen kann, nicht schon im Entstehen vernichtet wird.
    Sie schwiegen.
    Ich habe nicht gewusst, dass ich so leiden kann. Sagte er.
    Hedwig zog seine Hände zu sich hin.
    Ohne Grund weiterleben, sagte er.
    Das Normale, sagte sie.
    Schweigen.
    Dein Gesicht, sagte er, ist zurück.
    Ich spür’s, sagte sie. Dann: Sie habe den Ärzten am Vormittag mitgeteilt, dass sie vorerst keine Chemotherapie mehr wünsche.
    Schweigen.
    Dem Pfarrherrn dürfe er das nicht sagen, noch nicht. Was sie zur Zeit erlebe, durch Percy erlebe, verstehe der Pfarrherr nicht. Noch nicht.
    Schweigen.
    Verstehen wollen ist sowieso ein Unding, sagte sie. Es gibt nichts zu verstehen.
    Leben ohne Grund, sagte er noch einmal.
    Dem Leben zuliebe, sagte sie.
    Percy sagte, das sei ein Satz von Mutter Fini.
    Und von mir, sagte Hedwig.
    Auf einmal sah er in ihrem Gesicht, wie sie vor dreißig Jahren ausgesehen hatte. Ganz genau sah er ihr ovales, gebräuntes Gesicht, ihren ein bisschen vorspringenden Mund, die auf Heiterkeit gestimmten Augen, die dunklen Haare eng am Kopf, hinten zum Knoten gebunden. Und ein Scheitel, der vorne links von einer Haarspange verdeutlicht wird.
    Ich danke dir, sagte er.
    Sag dem Pfarrherrn einen schönen Gruß. Nächste Woche komme ich heim.
    Ihr Gesicht war jetzt ganz zurück.
    Du bist eine tolle Ablenkung, sagte er.
    Lieber eine Hinlenkung, sagte sie.
    Bis bald. Händedruck. Und ging.
    Drunten zu Fred: Das kommt nicht in den Film.
    Wie du meinst, sagte Fred. Klinik kommt sonst immer sehr gut.
    Arschloch, sagte Percy.
    Endlich, sagte Fred.
    Sobald sie im Auto saßen, sagte Percy: Lohengrin, bitte.
    Fred rief: Yes, Sir.
    Percy sagte: Katze lässt grüßen, Fred drückte auf den Knopf, die Musik schlug über ihnen zusammen wie eine Woge.
    Percy dachte: Wenn du alles meiden musst, was dich zu Sandra hinlenkt, musst du das Leben meiden.
    Vergeh doch, Tag, bevor du angefangen hast. Dachte Percy.
    Stopp die Litanei der Wünsche. Dachte er.
    Nichts ist so unbegreiflich wie die Aussichtslosigkeit. Dachte er.
    Ich begreife nicht, warum ich das nicht begreife.
    Und konnte an Augustin Feinlein denken wie noch nie.
    Lern Schreie ausstoßen, die du selber nicht mehr hörst.

17.
    Pfarrer Studer sagte: Grüß Gott, werte Frauen, werte Männer. Dass der Große Pfarrhaussaal übervoll werde, habe er nicht gehofft, sondern gewusst. Und zwar von selbst. Er hat’s einmal drüben in der Kirche gesagt, dann hat es sich herumgesprochen. Bis nach Scherblingen und über Scherblingen hinaus. Merklingen freut sich. Der Percy wird sprechen, hat er in der Kirche gesagt. Und ihr, werte Frauen, werte Männer, seid gekommen, ihn zu hören. Am Tag, an dem wir Marias Unbefleckte Empfängnis feiern. Und Samstag ist auch. Und Fräulein Hedwig ist heute heimgekommen, aus der Klinik. Also, Percy, komm jetzt.
    Percy wollte das Podest weder schwungvoll noch mühsam besteigen, sondern irgendwie. Dann stand er droben, Pfarrer Studer saß schon drunten.
    Percy sagte: Liebe Leute. Er sah ins Publikum und sah niemanden. Liebe Leute, sagte er noch einmal. Ist die Vorstellung, dass wir, die Verlassenen, etwas mit einander zu tun haben, nicht schönheitsfähig? Ich frage euch! Ich habe gehört, aus der Antike: Die

Weitere Kostenlose Bücher