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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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ermattete. Wenn sie, weil das auffiel, wieder entlassen wurde und eine neue Stelle suchen musste, hielt ihr Arno bittere Vorträge. Sie nehme sich einfach nicht zusammen, ja, sie versacke geradezu wollüstig in ihren trüben Stimmungen. Er wurde öfter entlassen als sie, weil er gelegentlich den Freitagabend nicht mehr erwarten konnte, also die erste Flasche Asbach schon am Mittwoch leerte und dann am Donnerstag nicht auftreten konnte, wie er sollte. Wenn er wieder eine Stelle verloren hatte, war er so empfindlich, dass es unmöglich war, mit ihm nicht in Streit zu kommen. Wenn er dann trank, aber noch nicht so viel getrunken hatte, dass er umfiel und liegen blieb, durfte sie ihm nicht mehr vor die Augen kommen. Er fing an zu stöhnen, sobald er sie sah. Sei so gut und befreie mich von deinem Anblick, rief er. Dich zu sehen, tut so weh, rief er. Wenn sie nicht schnell genug verschwand und er auch nichts zur Hand hatte, was er nach ihr werfen konnte, torkelte er auf sie zu und schlug, schlug auf sie ein. Seine Narbe glühte. Sie musste sich retten, auf die Straße retten. Ins Palmbräu. Herr und Frau Schultheiß nahmen sie immer auf, aber sie verlangten von ihr, dass sie sich endlich scheiden lasse. Als sie einmal mit einer blutenden Wunde an der Stirn eintraf, weil sie einem auf sie einschlagenden Kleiderbügel nicht hatte ausweichen können, setzte Herr Schultheiß einen Brief an einen ihm befreundeten Anwalt auf, Fini unterschrieb, und sieben Wochen später war sie geschieden.
    Arno hatte sich nicht gewehrt. Er hatte ihr nach der Amtshandlung noch die Hand gereicht und gesagt, er wünsche ihr alles Gute. Glaubhaft hatte er das gesagt. Wenn Herr Schultheiß und der Anwalt sie nicht so deutlich bewacht hätten, hätte sie am liebsten alles widerrufen. Arno tat ihr, wie er sich so allein entfernte, unendlich leid. Sie gehörte zu ihm.
    Als sie stand und ihm nachsah, wollte sie ihn rufen. Herr Schultheiß sah’s und verschloss ihr mit seiner kräftigen Hand den Mund. Das Essen im Palmbräu, zur Feier der Scheidung, kam ihr vor wie ein Totenmahl. Arno und ihr misslang das Leben gleichermaßen. Sie wusste niemanden, dem sie sich näher fühlte als diesem Mann. Und saß und musste mit dem Anwalt und dem Ehepaar Schultheiß auf den Scheidungserfolg trinken. Jetzt beginne für sie endlich ein menschenwürdiges Leben. Solche Sprüche.
    Sie fand sogar sofort eine gute Stelle, um die sie sich, wenn sie noch andauernd Arnos Anfällen ausgesetzt gewesen wäre, gar nicht hätte bewerben können. Garderobiere im Marquart. Das war zwar nicht mehr die Gewandmeisterei des Staatstheaters mit Schiller und Horváth, aber der Herr Intendant wirkte auf sie, als wisse er alles und tue alles, damit sie das Leben überhaupt und also auch das Garderobenfrauenleben im Marquart aushalte. Er gab ihr zu verstehen, da er mit Kunst zu tun habe, und sei’s auch nur mit Boulevard-Kunst, stelle er an sich höhere Ansprüche, was den Umgang mit anderen Menschen angehe, als wenn er zum Beispiel Schrauben produzierte. Eine solche Menschenfreundlichkeit hatte sie drüben hinter den Kulissen der Schiller-Horváth-Kunst nie erlebt.
    Wenn sie nicht mehr konnte, schrieb sie ihre Briefe an Ewald Kainz. Dass ihr Arno beim Briefschreiben zusah und sie für das Briefschreiben lobte, vermisste sie. Eines Tages konnte sie keinen Brief mehr schreiben. Sie saß, unfähig, sich noch zu bewegen. Wie lange sie saß, wusste sie nicht. Einmal schrie sie auf wie in höchster Not. Einmal, zweimal, dann ein nicht aufhören könnender Schrei. Herr Fränkel kam herunter. Er brachte sie ins Bürgerhospital. In die Geschlossene Abteilung. Sie leide an Depression, erklärte man ihr und versorgte sie mit Medikamenten, die sie, sobald sie wieder draußen war, nicht mehr nahm. Sie kam sich, wenn sie diese Medikamente genommen hatte, fremd vor; es wurde ihr auch regelrecht schlecht. Mehr als schlecht. Sie wurde ohnmächtig, ohne das Bewusstsein zu verlieren. Sie sagte den Ärzten, das sei furchtbar, diese Ohnmacht bei vollem Bewusstsein. Die Ärzte sagten, das sei weniger schlimm als eine zum Suizid disponierende Depression. Sie lernte die Wörter, die hier im Schwange waren, sehr schnell.
    Im Spital hatte sich ein Student im Garten immer neben sie gesetzt. Sie sprachen wenig mit einander. Einen Tag bevor sie entlassen wurde, sagte sie, morgen werde sie nicht mehr hier auf der Bank sitzen. Er fiel sofort vor ihr auf die Knie und flüsterte, sie dürfe ihn nicht verlassen. Er habe

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