Muttersohn
hielt seine Rede und überreichte dem Kapitän und jedem, der mitgefahren war, die Anerkennungsmedaille des BWAC . Der Ballonkapitän dankte. Frau Dr. Schall zeichnete uns vier Gewinner aus. Vier Schalen, unterschiedlich groß, darin stand geschrieben, wozu sie dienten. Und Urkunden. Ich war also der Dritte. Sie sagte jedem Gewinner noch einen Satz. Dem Autor sagte sie, dass dieser Tag sicher in einem Roman auftauchen werde. Mir sagte sie: Um einen Motorradfahrer muss man ja immer Angst haben. Sie haben’s überlebt. Gratuliere! Nachher saß ich wieder so, dass ich sie sehen konnte. Dann wurde getanzt. Ich blieb sitzen und schaute zu. Sie, in ihrem engen Rock, tanzte ziemlich heftig. Egal, mit wem sie tanzte, sie tanzte immer so, als tanze sie allein. Ich dosierte mein Hinschauen. Sie durfte nicht bemerken, wie ich sie ansah. In einer Musikpause stand ich auf und bedankte mich dafür, dass ich hatte teilnehmen dürfen. Die schöne Schale werde ich, sagte ich, in Ehren halten. Verneigte mich und ging. Den Satz mit der schönen Schale hatte ich ausschließlich zu ihr hin gesagt. Ich hatte dabei die Augenbrauen hoch in die Stirn gezogen und dem Mund eine Art Grinsen abverlangt. Das sollte heißen, so ernst ist das, was ich da sage, nicht gemeint.
Hau ab. Ab nach Amtzell. Den Wein hatte ich abgelehnt. Nur Bier, bitte, hatte ich gesagt und zu ihr hingeschaut. Sie sollte daran denken, dass sie mir zum Überlebthaben gratuliert hatte. Ich fuhr unter einem aufgeregt funkelndem Sternenhimmel heim nach Amtzell.
Gleich in die erste Kurve fuhr ich zu schnell hinein. Ich brauchte das Gefühl, gleich schleudere es mich. Aber die Kurve hörte nicht auf, und das Gefühl, dass es mich gleich schleudere, auch nicht. In mir spielte sich ein Unfall ab, den geschehen zu lassen ich mir nicht leisten konnte. Dabei wollte ich auf dieser Heimfahrt nichts als schleudern, geschleudert werden, erlöst sein von der dämlichen Zurechnungsfähigkeit. Und hämmerte mir den Satz zurecht, dass ich Elsa nie verlassen werde. Und kam mir blöde genug vor, als ich es nicht lassen konnte, dazuzudenken: Elsa darf nicht ein zweites Mal verlassen werden. Und wusste, dass nichts so unnötig war wie solche Gedanken.
2.
Elsa kam nach drei Tagen zurück. Sandra war operiert, Elsa erschöpft. Schön erschöpft. Erfolgreich erschöpft. Vom Helfenkönnen erschöpft. Er war herumgehockt, Silvi buchstabierend. Eine Blonde mit einer Lederjacke. Er läuft ihr einfach nach. Wie ein Hund, der von einem Geruch fortgerissen wird. Ihre Nase. Eine Nase wie ein Gedanke. Wie ein schöner Gedanke, ein disziplinierter Gedanke, so auffällig gerade, eigentlich lang, genau entsprechend dem langen schmalen Gesicht, nicht spitz endend, ruhig endend über dem Kontrastmund. Aber die ruhige Nase und der unruhestiftende Mund sind nicht mehr so wichtig, wenn man einmal in diese Augen geschaut hat. Kein bisschen leidend oder duldend. Nur innig.
Im Telefonbuch stand, sie habe ihre Praxis in der Mauritz-Betz-Straße. In Überlingen. Er fuhr hin. Hockte da stundenlang, hoffend, sie komme, und hoffend, sie komme nicht. Sie kam nicht.
Ich konnte Elsa nicht mehr ansprechen. Ich antwortete nur noch mit Gesten und Bewegungen. Wie ein Taubstummer. Dieses Vor-mich-hinstarren-Müssen war mir nicht ganz fremd.
Elsa kam mit Tees, Johanniskraut, Baldrian, Weißdorn. Wie lange würde ich ihre Angst ertragen. Sie litt. Sie sprach mich an, massierte an mir herum, ich wollte nicht reagieren müssen, ich wollte nicht da sein, ich wollte nicht schuldig sein an ihrer Angst.
Wenn es ihm gelungen ist, wieder einen ganzen Tag lang nicht anzurufen, bilanziert er: Es geht. Er wird nicht anrufen. Es geht. Leistung. Leistung. Leistung. Er muss sich vormachen, dass er es fertigbringe, sie nicht anzurufen. Aber er weiß, dass er sich das nur vormacht. Man sehnt sich nach Zahnweh. Überhaupt: Körperlicher Schmerz ist fair.
Als Elsa eine ärztliche Hilfe finden wollte, wusste ich, dass ich das selber tun musste.
Er musste anrufen. Er rief an. Besetzt. Er war erlöst. Was soll er, wenn sie dran ist, sagen? Er erreichte sie. Die Sekretärin sagte: Ich stelle Sie durch.
Ihre Stimme. Er, sprachlos.
Sie sagte zweimal: Hallo? Legte auf.
Er rief sofort wieder an. Konnte sich der Sekretärin mühelos verständlich machen, eine technische Panne vortäuschen, sie stellte ihn durch.
Ja, mein Name ist Kainz, Ewald Kainz, ich war an dieser Ballonverfolgung …
Sie sagte weder besonders laut noch
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