Muttersohn

nicht. Der ist zehn Jahre älter. Also musst du zwar als Erster oder Zweiter in Landeplatznähe ankommen, aber dann kannst du dich von einem oder von zweien noch überholen lassen.
    Zum Schluss wurde ich geradezu märchenhaft in Versuchung geführt. Der Wind drehte so deutlich, dass der Ballon keinen Meter mehr nordwärts trieb, sondern nur noch nach Westen, sogar Südwesten. Und flog schließlich genau über mein Revier. Er flog doch tatsächlich über unser Heim in den Wäldern zwischen Wilhelmsdorf und Illmensee. Er flog auf das Pfrungener Ried zu.
    Ich kannte hier alle Kreuz- und Querwaldwege wie meine eigene Hosentasche. Wie leicht das wäre, als Erster am Ried zu sein und dann der Erste zu sein, der den Ballon berührte. Und ihn berühren hieß: ihn fangen. Dann würde ich den drei Ballonfahrern herunterhelfen. Auch ihr. Nein und nochmal nein. In Wilhelmsdorf bog ich ab, um eine Hausecke, und ließ drei Autos vorbei. Ich durfte nicht der Erste sein. Dann hinter denen her. Die hatten auch verstanden, dass der Ballon sich schon senkte, also draußen im Ried landen würde. Die Straße, die aus Pfrungen hinausführte, war eine Lieblingsstraße für uns, das heißt für meinen Club. Die kleine Straße, ein makelloses Asphaltband, das sich an jedes Gelände-Auf-und-Ab anschmiegt. Und wird gesäumt, ja geschmückt von Hunderten von Birken. Zuletzt fuhr ich so, dass ich von einem Waldrand aus das Ried überblickte, die Landung beobachtete, aber mich erst näherte, als zwei Verfolger auf den gelandeten, jetzt in sich zusammensackenden Ballon zueilten. Ich startete. Und wurde der Dritte. Ich reichte meine Startkarte hinauf. Herr Dolder sagte: Brav. Trug die Zeit ein, notierte sie hinter meinem Namen auf seiner Liste. Vor mir eingetroffen waren als Erster der Schriftsteller, als Zweiter ein Cabrio-Fahrer. Auf einer Strickleiter waren die Ballonfahrer herabgestiegen. Meine Hilfe war nicht nötig. Als Frau Dr. Schall wieder festen Boden unter den Füßen hatte, probte sie demonstrativ, ob dieser Boden auch fest sei, schaute noch einmal zum Himmel hinauf und sagte: Das bläst ganz schön da droben. Der Autor, nicht faul: Ja, auch Engel machen was mit. Sein Satz gefiel mir viel weniger als ihrer.
    Aufbruch. Zurück nach Lindau. Der Autor lud Frau Dr. Schall ein, mit ihm zu fahren. Sie sagte: Da du nun mal der Sieger bist. Ab ging’s. Ich fuhr nicht über Wilhelmsdorf zurück, sondern über Illmensee, dann durch das Deggenhauser Tal. Dann den Gehrenberg hinauf. Wirkliche Kurven, das brauchte ich jetzt. Die nahm ich ganz unbedacht und willkürlich, dass es mich fast geschleudert hätte. Das tat gut. Droben haltgemacht, abgestiegen und hinausgeschaut in die reine Weite. Der See. Drüben der Säntis. Überhaupt eine Sichtbarkeit, tief in die Schweiz hinein und nach Vorarlberg hinüber. Ich buchstabierte die Gipfel, die ich kannte wie ein Kind. Mit Giacomo Bergkurven hinauf, die in den Himmel führen. Das bräuchte ich jetzt. Ich tätschelte meine Maschine wie ein Pferd. Ich wollte hinüber, hinauf, in die Höhe stürzen. Weg aus dieser ebenen Erde mit den blöden Sprüchen. Und musste mir auch noch vorstellen, dass der Schriftsteller der neben ihm sitzenden Doktorin Schall die hundert weißen Birkenstämme, zwischen denen gefahren wurde, servierte als einen Einfall von ihm persönlich für sie!
    Fuhr aber dann brav nach Lindau. Parkte die Maschine vor dem Stift, zog die anderen Schuhe an, das Hemd ließ ich in der Tasche. Ich ging in eine der beiden Kirchen, setzte mich und ließ mich da sitzen. In Kirchen ist man nicht so aufdringlich bei sich selber. Ich durfte nichts denken. Und dass ich nichts denken durfte, durfte ich auch nicht denken. Ich war unmöglich. Das spürte ich. Ich durfte nicht sein, wie ich jetzt war. Elsa. Frau Dr. Schall. Es gab nicht die Spur einer Verbindung mit Frau Dr. Schall, sie hatte mich kein bisschen bemerkt, aber ich, ich konnte nicht wegdenken von ihr. Darum war ich unmöglich.
    Ich war natürlich nicht im Lederzeug des Frei-Chors gefahren, sondern in Sportzivil. Das war bei mir der hellblaue Jeansanzug. Aber hinten musste doch noch der Markenkoffer mit. Darin das Hemd in fahler Farblosigkeit und leichtere Schuhe. Ich ließ in der Schwebe, ob ich abends zurückfahren werde oder übernachten in Lindau. Das hellere Hemd und die Schlüpfschuhe hatte ich in die Tasche getan, ohne dass Elsa es merkte. Also heimlich.
    Abends wurde an einem langen Tisch gegessen, der BWAC -Vorsitzende Dr. Sowieso