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Muttersohn

Muttersohn

Titel: Muttersohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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besonders lebhaft: Sie sind der Motorradfahrer. Dann haben Sie sich so schnell verabschiedet. In der Zeitung wurden Sie lobend erwähnt.
    Hab’ ich nicht gelesen, sagte er.
    Sie schicke ihm gerne eine Kopie zu, sagte sie.
    Nein danke, sagte er. Er müsse ihre Hilfe in Anspruch nehmen, sagte er. Am Telefon sei es nicht zu erklären. Die Sekretärin gab ihm einen Termin. Davor aber hatte sie noch gesagt: Sehr gern, Herr Kainz. Motorradfahrer sind in meiner Sprechstunde eher selten. Aber Sie sind ja, weiß ich aus der Zeitung, Motorradlehrer.
    Jetzt der Termin. Am späten Vormittag. Im Ärztehaus. Zweites Obergeschoss. Dr. Silvia Schall. Psychotherapie.
     
    Ich bot mich Elsa noch einmal an. Am Morgen des Tages, an dem ich bei Frau Dr. Schall den ersten Termin hatte. Wir lagen noch im Bett, ich mehr auf dem Bett als im Bett. Ich war schon auf gewesen, lag jetzt im Morgenmantel.
    Ich sagte: Meine Zehen.
    Und Elsa: Was ist mit deinen Zehen?
    Sie brennen, sagte ich.
    Sie dachte über etwas nach. Das sah ich an ihrem Gesicht. Könntest du sie einmal anschauen, sagte ich.
    Gleich, sagte sie.
    Hätte sie einen meiner Füße in ihre Hände genommen, wäre mein Morgenmantel auseinandergegangen, ich hätte da gelegen, entblößt, sie sähe es … Aber sie hat meine Zehen nicht sehen wollen.
     
    Eine geplagt Aussehende kam, als er eintrat, gerade aus dem Sprechzimmer. Beherrschend im Raum die Couch, grün bezogen. Leder. Sie stand schon, als er eintrat, neben ihrem Schreibtisch. Eine helle Erscheinung. Ein farbloser, sehr heller Anzug. Kein violettes T-Shirt mehr, sondern eine geschlossene Jacke. Um den Hals eine dünne Kette aus rosaroten und dunkelgrünen Partien. Sie gaben einander die Hand. Er zuckte zusammen, das heißt, er zog die Hand zurück, bevor der Händedruck richtig stattgefunden hatte. Er wollte ihre Hand nicht drücken. Sie wies auf die drei Sessel, die um ein Tischchen gruppiert waren, das eine Platte aus Mosaiksteinen hatte.
    Also, sagte sie. Was gibt es?
    Er sagte, dass er vielleicht gleich gar nicht mehr sprechen könne.
    Dann schwieg er. Sie auch. Er musste also weitersprechen. Aber er konnte nicht. Er machte eine Handbewegung, die heißen sollte: Hat doch alles keinen Sinn.
    Dann sagte er doch: Ich stottere eigentlich nicht mehr. Aber jetzt, ich komme nicht, weil ich gestottert habe.
    Er schwieg.
    Sie kommen also –, sagte sie und wartete.
    Er konnte nichts sagen.
    Also, sagte sie, wenn er wolle, könne er sich auf die grüne Couch legen, zur hellblauen Decke hinaufschauen und dann … reden oder nicht reden, ganz wie es ihm zumute sei.
    Nein, sagte er, hinlegen wolle er sich nicht, aber an ihr vorbeisprechen schon. Er werde zu diesem Bild sprechen, sagte er und deutete auf das große Bild an der Wand.
    Ja, sagte sie, die Mondrian-Reproduktion ist ein Partner.
    Er wusste inzwischen, was er sagen musste. Da er ihr nicht sagen konnte, wie es ihm ging seit jenem Junisonntag, musste er früher anfangen, dann bei diesem Sonntag enden. Und fing an mit seiner Mutter, die versucht hatte, ihm dieses Leben zu ersparen, und sagte dann kurz dieses Leben auf. Vom Heim in Oberbieber zur Uni Tübingen, zum Berufsverbot, zum Aushilfslehrer, zum Stotterer, zum Motorradlehrer, zur wunderbaren Rettung durch Elsa, dann dieser Junisonntag. Dass er sich seit jenem Sonntag nicht mehr bewegen könne. Seine Frau habe gesagt: Depression. Und, sagte er, ich habe jetzt viel mehr gesagt, als ich sagen wollte.
    Sie sagte, dass sie ihn eigentlich sofort einem Kollegen übergeben müsste. Sie müsse darüber nachdenken. Dass Patienten im Lauf einer langen Behandlung zum Therapeuten eine besondere Beziehung aufbauten, sei ja psychotherapeutischer Alltag. Aber dass jemand mit einer solchen Beziehung die erste Stunde eröffne, sei zumindest nicht psychotherapeutischer Alltag. Ob er einverstanden sei, wenn sie sich in einer Woche wiedersähen und sie bis dahin nachdenken könne, was zu tun sei.
    Nach einer Woche eröffnete sie mit der Frage, ob es auch Einzelunterricht gebe auf dem Motorrad.
    Ja, natürlich.
    Gut, sie wolle bei ihm Einzelunterricht. Motorrad, das sei immer schon ein unterdrückter Wunsch von ihr gewesen.
    Zuerst also Einzelunterricht, dann, wenn der funktioniere, die nächste Sitzung bei ihr zur Beantwortung der Frage, ob sie seine Therapeutin sein könne.
     
    Giacomo hatte dem Frei-Chor auch eine Frage vorgelegt: Durfte Marlon an dieser Ballonverfolgung teilnehmen, ohne es uns vorher zu sagen?
    Manche sagten:

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