Muttertier @N Rabenmutter
packte mich so fest an den Schultern, dass es mir weh tat. Woher nahm diese kleine, zierliche Person, keine 160 Zentimeter groß, ein Leichtgewicht, nur diese Kraft? »Hanna, du muss loslasse. Et is zweieinhalb Jahr her, dat Marc jestorben is. Et is entsetzlich, ja. Un et würd immer schmerzen. Minne Helmut fehlt mir auch sehr, äver wir leben! Du häst Franziska, ich hann minne Kinder un minne Enkel. Un dat Läwe is schön.«
»Schön?«, fauchte ich sie an. »Schön? Was ist schön an meinem Leben? Ich fühle mich wie durchgeschnitten. Marc war ein Teil von mir, mit ihm war ich komplett«, schrie ich weiter und rannte zurück ins Wohnzimmer. Ich drückte seine Urne fest an mich, während mir die Tränen in Strömen die Wangen herunterliefen. Ich hatte ihn noch nicht einmal vernünftig beerdigen können. Das hatten mir alle außer Lieschen vorgeworfen. Ich konnte ihn nicht einfach in eine Holzkiste stecken, ihn in einer Gruft oder der blanken Erde begraben. Ich wollte ihn nicht loslassen. Die Urne hatte er mal erwähnt, und er wollte, dass ich seine Asche am Meer verteile. Aber das konnte ich auch nicht. Zweimal war ich an der kroatischen Küste, um meine Familie zu besuchen und seinen Wunsch zu erfüllen, aber ich packte es nicht. Marc reiste mit mir, überall hin. Ich habe mich daran gewöhnt, mit der Urne zu reden. Franziska redet nicht mit der Urne, sie spricht mit der Luft. Sie sagt, dass sie ihn sieht und sich mit ihm unterhält. Kinder kommen im Leben mit allem klar. Warum schaffe ich es nicht?
»Hanna, Hanna«, riss mich Lieschen aus meinen Gedanken, »Jedes Mal, wenn et dir so schlecht ging, jab et doch ene Jrund dafür! Wat is denn hüt passiert?« Ja, das stimmte, jedes Mal gab es einen Grund für meine tiefe Trauer. Im Kindergarten waren es die jährlichen Vater-bastelt-mit-Kind-Laterne-Tage oder letztens noch die Anmeldung in der Musikschule. »Bitte geben Sie die Daten auch für den Vater des Kindes an!« »Franziska hat keinen Vater mehr«, hatte ich der Schulleiterin gesagt. Sie hatte mich mitfühlend angeschaut und gemeint, dass es wirklich traurig sei, dass heutzutage die Kinder nach der Trennung ihrer Eltern auf ein Elternteil verzichten müssen. Ich musste sofort weinen. Franziska tröstete mich und erklärte der Frau altklug, dass ihr Papa vor fast drei Jahren gestorben ist. Meine Tochter war so stark, stark für uns, für mich! Dabei wäre das eigentlich meine Rolle gewesen. Es war immer meine Rolle, stark zu sein. Ich hatte die Courage und die große Klappe. Auch in unserer Beziehung war ich wie ein Stier, zu jedem Kampf bereit, aber seit es Marc nicht mehr gibt, habe ich Schwächen an mir entdeckt, die ich vorher nicht kannte. Und das macht mir Angst.
»Ja, Lieschen, heute ist meine E-Mail an Maxi der Auslöser«, sagte ich.
»Dinne alde Schulfreundin?«, fragte sie nach.
»Ja, genau, meine beste Freundin. Ich habe darüber nachgedacht, wie es gewesen wäre, wenn sie damals hier gewesen wäre. Maxi hätte bestimmt mitgeheult. Ich konnte sie mit meinen Emotionen immer so gut anstecken.« Ich musste lachen. Es war kein hysterisches Lachen, eher ein freudvolles. Es war schön, an Maxi zu denken. »Ich wollte ihr schreiben, was in den letzten Jahren passiert ist, und dann hatte ich plötzlich wieder dieses leere Gefühl. Sie wissen schon …«
Erneut erinnerte ich mich an die letzten Stunden mit Marc. Es war ein Tag wie jeder andere. Franziska war drei Jahre alt, Marc brachte sie morgens immer in den Kindergarten. Es ging hektisch zu, wir waren meistens spät dran. Frühstücken im Stehen gehörte zu unserem Leben. Während Franziska in der Küche auf der Arbeitsplatte saß und ihren Kakao schlürfte, betonte sie, dass andere Kinder an einem richtigen Tisch essen würden. Marc und ich sahen das lockerer. Unsere Küche war funktional, ich fand sie auch schön. Etwas Edelstahl, viel weiß, schlicht. Für uns war nie eine Einbauküche infrage gekommen. Wir hatten den offenen Stil gewählt, der auch gern mal die Töpfe und Teller einstauben ließ. Natürlich nur so lange, bis wieder eine meiner Jungfrau-Putzorgien anstand. Unser Kühlschrank war ein Erbstück aus den 60ern. Ein Bosch! Die gibt es heutzutage wieder bei Media Markt und Co. als Retro-Modell. Marc hatte uns lieber einen günstigen Kühlschrank im Supermarkt gekauft und dann die alte Bosch-Hülle drumherum gebaut. So etwas konnte er richtig gut. Er war einfach praktisch veranlagt, und das liebte ich so sehr an ihm. Viel Wertvolles
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