Mutti geht's gut: Wahre Geschichten aus dem Leben einer Tochter (German Edition)
nach.
Seltsamerweise reagiert meine Mutter bei spitzen Kommentaren meines Mannes fast immer so. Ich vermute, sie fühlt sich von ihm zwar durchschaut, aber auch verstanden. Sie hat ihren Meister gefunden. Und dafür liebe ich ihn umso mehr!
Nachdem der Film glimpflich überstanden ist und wir noch gemütlich ein Gläschen Wein zusammen trinken, verkündet Muddi, dass sie doch bis zum zweiten Weihnachtsfeiertag bei uns zu bleiben gedenkt. Mein Bruder Jürgen wollte sie ursprünglich am ersten Weihnachtsfeiertag bei sich und seiner Familie aufnehmen und den Tag darauf bei seinen Schwiegereltern verbringen. Aber leider ist bei denen etwas dazwischengekommen, sodass er kurzfristig umdisponieren musste. Muddi hat dafür größtes Verständnis.
»Dann muss ich mich auch nicht zwei Mal einrichten«, sagt sie, während ich ihr noch einmal nachschenke.
Vermutlich hat sich Jürgen etwas Ähnliches gedacht. Es ist ja auch wun-der-schön bei uns.
Am letzten Tag ihres Weihnachtsbesuchs, also nun am zweiten Feiertag, kommt Muddi angesichts des weihnachtlichen Überflusses auf Kriegszeiten, Nachkriegsarmut und das Leben in der heutigen Überflussgesellschaft zu sprechen. Anlass dafür geben einige alte Fotos, die ich aus dem Keller geholt habe. Wir sehen Klein-Muddi in Pommern, meine Großmutter mit großem Schlapphut und einem wunderschönen Leinenkleid in einem sommerlichen Pommerschen Wald.
Es ist nicht ganz einfach, den Monolog meiner Mutter mit Fragen oder gar eigenen Ansichten zu unterbrechen. Jedes Mal, wenn einer von uns versucht, seine Einschätzung dieser Zeit einzubringen, fällt sie ihm sofort ins Wort. Sie möchte unbedingt und unentwegt von diesen schlimmen und doch irgendwie auch schönen Zeiten erzählen und ihre Erinnerungen ausschmücken.
Endlich gelingt es meinem Mann, ihren Wortschwall zu unterbrechen und er zwinkert Muddi zu.
»Das Geheimnis einer wirklichen Unterhaltung ist, dass man abwechselnd redet und einander zuhört, verstehst du, Muddi? Aabweechseelnd …«
Für einen kurzen Moment ist Muddi sprachlos. Dann lächelt sie meinen Mann an. Sie scheint sich auf eine sonderbare, unerklärliche Weise geschmeichelt zu fühlen. Weil sie ihre Eigenart schätzt, ja, sie ist wirklich auf eine ganz spezielle Art und Weise stolz auf ihren Charakter, auf ihr Selbstbewusstsein. Und dann sagt sie, an Laszlo gerichtet, was ich bestimmt zum hundertsten, wenn nicht tausendsten Mal höre: »Jaja … Schon meine Mutter hat immer zu mir gesagt: ›Wenn du mal stirbst, müssen sie deine Gosche extra und seeehr tief vergraben. Nur dann ist wirklich Ruhe!‹«
Und als würde ihr eine höhere Macht recht geben, erklingen in diesem Moment im Radio die ersten Takte des Weihnachts-Evergreens »Stille Nacht, Heilige Nacht«.
17
»Wer soll diesen ganzen neumodischen Kram bloß verstehen?«
Z u Weihnachten haben Lazlo und ich uns ein iPad gegönnt. Nachdem Muddi zuvor noch die Benutzung dieses neumodischen Geräts mit einer wirschen Handbewegung kategorisch abgelehnt hat, betrachtet sie es nun erkennbar vorsichtig, beinahe ehrfurchtsvoll.
»Kann ich daran auch nichts kaputt machen?«
Doch, Muddi, kannst du. Du wirst es aber nicht, denke ich, spreche es aber nicht laut aus. Stattdessen erkläre ich meiner Mutter, was eine App ist, und hoffe, dass sie es wenigstens ansatzweise versteht. Als ich ihren ratlosen Blick sehe, verlege ich mich schnell darauf, ihr einfach die praktischen Vorzüge des Geräts zu zeigen.
Nach diversen Runden des Spiels Wer wird Millionär? auf dem neuen Gerät entdeckt meine Mutter schließlich die Bilder, die einige Webcams dieses Planeten anderen Usern per App direkt aufs Pad ins Wohnzimmer schicken. Mr John Smith in Pennsylvania hat seine Kamera im Kaninchenstall aufgestellt, Maggy Pettersson aus Schweden hat diese vor der Schaukel ihrer Enkelkinder platziert, und der Vorsitzende der First Pacific Company Ltd. sendet von Hongkong aus Impressionen aus der Küche seines im sechsundzwanzigsten Stockwerk eines Hochhauses gelegenen Büros. Von Zeit zu Zeit huscht ein Mitarbeiter von der Kaffeemaschine zum Spülbecken, stellt die Tassen zurück in den Küchenschrank, gähnt, bückt sich zum Mülleimer oder starrt einfach nur sekundenlang auf die Auslegeware. Spannung pur im Land des Lächelns.
Meine Mutter findet das alles einfach toll.
»Das ist ja einfach unglaublich, Laura!«, ruft sie, und kurz darauf: »Gott, wenn ich so was als Kind gehabt hätte …« Innerhalb kürzester Zeit stellt sie
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