Mutti geht's gut: Wahre Geschichten aus dem Leben einer Tochter (German Edition)
fest, dass es ein unglaublicher Zeitfresser ist. »Da kann man sich schon mal drin verlieren, Laura. Das echte Leben ist dann zweitrangig!«
Dabei starrt sie auf das Pad, als sei sie ein zehnjähriges Kind, dem die Mutter irgendwann in absehbarer Zeit für zwei Wochen Internetverbot aussprechen muss.
Als Nächstes stellt sie fasziniert fest, dass eine der Webcams in der Bourbon Street in New Orleans irgendwo über der Tür einer Bar hängt. Von dort aus blickt man direkt auf ein Restaurant auf der Straßenseite gegenüber. Vor diesem Restaurant ist ein Hotdog-Stand zu erkennen. Es regnet. Touristen wandern gelangweilt mit Regenschirmen durch die Kneipenmeile. Rechts im Bild sind auf einem Schild die Wörter »Jazz« und »Bar« zu entziffern. Na ja, das ist jetzt wahrlich nicht ungewöhnlich für New Orleans, oder?
»Was macht denn der Kerl da am Hotdog-Stand, Laura?«
Ich schaue auf das iPad. »Na, der wartet auf Kundschaft.«
Muddi scheint zu glauben, dass sie gerade online Zeugin eines Verbrechens wird. »Nee«, ruft sie aufgeregt, »der steht da so komisch rum! Und er guckt ständig nach rechts und links! Ohne Grund. Wenn der mal nicht was ausheckt!«
Wie du meinst, Muddi!
»Guck doch mal, Lauraaaa! Jetzt geht er nach hinten! Und wie eilig der es hat!«
»Na, wie Hannibal Lecter sieht der Mann am Hotdog-Stand eigentlich nicht aus, Muddi«, versuche ich sie zu beruhigen.
»Wer ist das?«
»Den kennst du nicht«, sage ich schnell. »Ist eine Filmfigur.«
Muddi nickt das kurz ab und wird immer aufgeregter. »Ha! Eben wollte er da noch zur Tür rein … Jetzt hat er sich’s anders überlegt und geht zur nächsten Tür. Der heckt irgendwas aus, das sag ich dir!«
Meine Mutter beobachtet den Hotdog-Verkäufer in New Orleans immer noch mit Argusaugen. Jetzt erinnert sie mich wirklich sehr stark an die Muddi aus Adelheid und ihre Mörder .
»Nein, Muddi, der heckt nichts aus. Der holt sich nur Zigaretten. Er langweilt sich wahrscheinlich, weil heute Abend niemand Hotdogs kaufen will. Und er hat vermutlich einfach keine Lust mehr, nur dort rumzustehen.«
»Na, ich weiß ja nicht …!«
Kurz darauf kommt der verdächtige Imbissangestellte wieder aus dem Laden heraus und trägt jetzt eine rote Jacke. Zigaretten hat er also nicht gekauft. Zuvor war sein Oberkörper mit etwas Blauem bekleidet, wahrscheinlich einem langärmeligen T-Shirt. Vielleicht ist es in New Orleans auf einmal kalt geworden?
»Wo hat der denn plötzlich die Jacke her?«, will Muddi sofort wissen.
Als ob ich das beantworten könnte. Aber ich spiele mit.
»Hm«, sage ich, »wahrscheinlich kennt er den Ladenbesitzer und hat sich von ihm etwas Wärmeres zum Anziehen geliehen, weil er friert. Oder das ist ein Klamottenladen und er hat die Jacke gerade gekauft, Muddi.«
»Das glaub ich nicht.« Sie starrt wieder wie gebannt auf die Oberfläche des iPads, als würde dort ein superspannender Krimi laufen. »Schau doch mal … Jetzt hat er die beiden Leute da angequatscht. Was will er bloß von denen?«
Mein Mann greift sich derweil eine Computerfachzeitschrift und versucht, sich trotz der Geräuschkulisse in einen Artikel zu vertiefen. Nach einer Weile, in der meine Mutter lautstark weiter über den Hotdog-Verkäufer in New Orleans sinniert, legt Lazlo sichtlich genervt die Zeitschrift zur Seite, schaltet den Fernseher ein und zappt wild herum. Plötzlich ertönt die markante Tatort -Melodie; in irgendeinem der dritten Programme läuft natürlich auch heute eine Wiederholung. Normalerweise ist das für Muddi ein Signal, alles um sich herum zu vergessen. Aber heute Abend ist sie zu beschäftigt mit den Errungenschaften der modernen Technik.
»Warum hat er sich denn eben gebückt? Ach so … er hat wohl bloß Ketchup nachgefüllt …«
Die Spannung sinkt. Aber nur kurzfristig.
»Laura, guck doch mal, der hat die Markise ausgefahren. Gott, das schüttet da aber auch wie aus Kübeln! Aber wieso ist er jetzt nach links gegangen? Ich sag dir doch, der heckt was aus.«
Drei Stunden später liege ich zusammengesunken auf dem Sofa, zwei Kissen lagern unter meiner linken Körperhälfte, um mich zu stützen. Die Sitzposition ist, gelinde ausgedrückt, unbequem, aber ich muss wach bleiben, um Muddi am iPad zu beobachten.
Mein Gatte hat inzwischen endgültig die Segel gestrichen – er hat sein Oberhemd ausgezogen, ist unter die Wolldecke auf dem Ausklappsofa gekrochen und schnarcht leise vor sich hin.
Als ich das nächste Mal auf die Uhr schaue,
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