Mutti geht's gut: Wahre Geschichten aus dem Leben einer Tochter (German Edition)
Stimme meiner Mutter zu übertönen.
Nach einigen Minuten beenden wir das Gespräch. Ich gehe in die Küche und suche im Tiefkühlschrank nach dem heutigen Abendessen. Exakt fünf Minuten später klingelt erneut das Telefon. Muddi.
»Laura, ich hab keine Lust mehr, ich glaub, ich muss mir doch das Leben nehmen«, japst sie aufgelöst.
Okay. Ich atme tief durch und versuche, Ruhe zu bewahren, eine kleine Pause entstehen zu lassen. Und tatsächlich, das Keuchen meiner Mutter verlangsamt sich zunehmend.
»Was ist denn passiert?«, frage ich so sachlich wie möglich.
»Da gucke ich doch gerade aus dem Wohnzimmerfenster – und was sehe ich, Laura?«
Hm, zehn Rettungstransporter? Diverse Polizeiautos nebst Mannschaftswagen? Risse in der Fahrbahn? Einen Tsunami, der sich von der Elbe aus Buxtehude nähert? Dass die Tankstelle gegenüber brennt?
»Ich wollte das Trottoir fegen«, erklärt Muddi mir stattdessen. Meine Mutter liebt französische Begriffe, weil sie findet, dass das eleganter klingt.
»Ja, und dann?«, frage ich.
»Na, dann sah ich, dass die Zirkusmenschen ein Plakat an meinen Jägerzaun gehängt haben!«
Das ist alles?! In Gedanken sehe ich Muddis Zaun vor mir: braun, vermodert, teilweise aus der Verankerung gelöst. Dass die es daran aufgehängt haben, war eher schlecht für das Plakat als für den Zaun.
»Muss ich mir das gefallen lassen?«, entrüstet sie sich. »Soll ich bei der Stadt anrufen?«
»Nein, musst du nicht.«
»Ich will so was nicht«, bekräftigt sie.
»Musst du ja auch nicht«, sage ich und versuche, ruhig zu bleiben.
»Früher haben die wenigstens vorher noch gefragt, ob sie Plakate anbringen dürfen. Das ist doch nicht öffentlich, das ist mein privater Zaun!« Ihre Stimme überschlägt sich vor Wut.
»Jaaa …« Ich weiß, dass ich jetzt nichts Falsches sagen darf, denn sonst ist sie eingeschnappt.
»Und früher haben sie einem für die Nutzung wenigstens noch Freikarten angeboten.«
Ich verdrehe die Augen. »Möchtest du denn Freikarten für den Zirkus haben, Muddi?«
»Gott, Laura, was soll ich damit?«, sagt Muddi wie erwartet. »Wir haben keine Kleinkinder in der Familie. Und ich seh mir die Tierquälereien bestimmt nicht an! Was mach ich denn jetzt bloß?«
»Stört dich denn das Plakat an sich?«
»Nein«, gibt sie zu.
»Na, dann lass es einfach hängen und putz dein Badezimmer.«
»Gott, Laura«, sagt meine Mutter spitz. »Du bist immer so direkt, seit du hier ausgezogen bist!«
»Ja, Muddi.«
»Früher warst du ganz anders!«
»Ich weiß«, antworte ich und sehe auf die Uhr. Gleich muss ich wirklich mit dem Mittagessen anfangen.
»Da hattest du noch Mitgefühl!«
»Ich weiß. Und jetzt bin ich egoistisch und unglaublich direkt.«
»Ach Laura …!«
Nun fängt Muddi leise an zu weinen, und ob ich’s will oder nicht: Ich weine ein wenig mit.
Und das ist gut so. Denn bei all der Unbill in der Welt ist es gut, wenn jemand zu dir hält. Auch wenn es nur um Wildplakatierer in Begleitung von traurigen Lamas geht.
27
»Dieser Arm gehört mir nicht!«
N iemand denkt mit Anfang zwanzig daran, wie seine Haut im Alter von achtzig Jahren aussehen wird. Keine Frau kann sich tatsächlich vorstellen, wie es sein wird, wenn sie später einmal nackt vor den Spiegel tritt und statt auf knospende Brüste, eine schlanke Taille und samtweiche Haut auf Runzeln und Falten blickt. Wenn es so weit ist, stehen jeder von uns Schockmomente bevor, die das Selbstwertgefühl nicht gerade steigern.
Muddi war als junge Frau bildhübsch, allseits beliebt und in Modefragen immer auf dem neuesten Stand. Sie bekam ständig Komplimente, andere Frauen begegneten ihr mit Neid, und sie wusste ganz genau, wie gut sie aussah.
Als sie zwanzig Jahre alt war, schickte sie ein Foto von sich an Onkel und Tante im, wie sie sagt, »vom Iwan besetzten« Teil Deutschlands. Genau genommen handelte es sich dabei um Ostberlin. Die Tante berichtete ihr später einmal: »Als ich deinem Onkel Gustav dein Foto mit dem Kussmund und der Dauerwelle gezeigt hab, hat der nur gesagt: ›Wat soll ick mit der Ami-Jöre? Leg det ma’ janz schnell wieda wech! Da wird ma schlecht.‹ Ich musste ihm dreimal mit Bestimmtheit erklären, dass die ›Ami-Jöre‹ auf dem Bild seine Nichte ist!«
Heute ist meine Mutter fast achtzig Jahre alt und – wie sollte es auch anders sein – ihr Äußeres hat sich verändert. Keine Liftings, keine Absaugungen, keine Botox-Spritzen kamen zum Einsatz, um diesen Prozess zu
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