Mutti ist die Bestie: Die heimliche Diktatur vieler Mütter (German Edition)
muss. Erstaunlicherweise wird allgemein davon ausgegangen, dass die Urinstinkte jeder Mutter ihr automatisch den besten Weg zeigen, mit ihren Kindern umzugehen. Dass sie aus einer angeborenen inneren Gewissheit heraus immer das Richtige tut. Aber das ist falsch. Es gibt keine genetische Veranlagung, die Frauen in die Lage versetzt, immer genau das zu tun, was ihre Kinder gerade brauchen. Mütter können jede Menge falsch machen. Manche tun es in guter Absicht, sie wissen es einfach nicht besser. Sie haben keine Erfahrung darin, die richtige Balance zwischen Geborgenheitgeben und Loslassen zu finden
Liebe ist …
»Nach Rom! Das ist eine wunderschöne Stadt mit so viel Kultur, dahin machen wir unsere Hochzeitsreise.«
Einen Moment lang glaubt Christine, dass sie sich verhört hat.
»Entschuldige bitte, hast du ›wir‹ gesagt?«
»Ja, natürlich. Du glaubst doch nicht, dass ich meinen Peter in einer so wichtigen Zeit alleinlasse, oder?«
Peter lächelt erleichtert. »Danke, Mama. Ich weiß gar nicht, was ich ohne dich anfangen würde. Du kannst uns Tipps geben, was man in Rom unbedingt anschauen muss. Und keiner schafft es so gut wie du, im Hotel den besten Service zu bekommen.«
Christine atmet tief durch und zwingt sich zu einem Lächeln: »Schön, dass du in die Flitterwochen mitkommst, Mutter.«
Seit einem halben Jahr ist Christine mit Peter verlobt. Er ist das, was ihre Eltern eine gute Partie nennen. Bisher konnte sie ihr Glück kaum fassen, dass er ausgerechnet sie ausgewählt hat. Sie ist doch gar nichts Besonderes, nur ein junges, unerfahrenes Ding. Peter dagegen: freundlich, großzügig, vollendete Umgangsformen, vielseitige Gesprächsthemen, immer gut gekleidet und gepflegt. Und reich. Auf einem Fest haben sie sich kennengelernt, nach einigen weiteren Treffen in Cafés hat er sie zu sich nach Hause eingeladen und seiner Mutter vorgestellt.
Christine wusste damals schon, dass der Firmenerbe ganz offensichtlich auf Brautschau war und dass noch keine der jungen Damen Gnade vor Mutters Augen gefunden hatte. Entsprechend nervös war sie, als die imposante Dame mit dem makellosen Haarschnitt und der Perlenkette über dem eleganten Kleid ihnen die Tür öffnete. Doch alles lief bestens. Sie stellte Christine viele Fragen, nach ihren Eltern, Geschwistern, Freundinnen, Schulnoten, ob sie schon mal einen Freund hatte … Doch Christines schüchterne, wohlerzogene Antworten schienen der Mutter zu gefallen. Jedenfalls gab sie ihrem Sohn offensichtlich die Erlaubnis, weiter um Christine zu werben und einige Zeit später um ihre Hand anzuhalten.
Und jetzt: die Ankündigung der zukünftigen Schwiegermutter, dass sie auf die Hochzeitsreise mitkommen würde. Nicht nur das, sie legt sogar das Ziel fest, ohne Christine oder ihren Sohn Peter um ihre Meinung zu fragen. Und Peter lässt sich das gefallen, ist sogar noch dankbar dafür. Da muss sie ihren Protest natürlich sofort aufgeben, aber zum ersten Mal kommen Christine Bedenken, ob die Ehe mit Peter wirklich so traumhaft wird. »Wenn sie sich weiter in alles einmischt, kann das ja heiter werden«, denkt sie.
Eine lustige Geschichte, ähnlich wie Loriots »Ödipussi«? Nein, was aus dieser Konstellation wurde, habe ich vor einigen Jahren in meiner Praxis hautnah mitbekommen. Nach jahrelanger Quälerei durch ihre übergriffige Schwiegermutter und ihren zwar reichen, aber gegenüber Mutti handzahmen Ehemann folgte für die junge Frau die schmerzhafte Scheidung. Sobald die Schwiegertochter den Mut gefasst hatte, auch öffentlich zu verkünden, dass sie nicht mehr mitmachen wollte, wurde bis aufs Messer gekämpft. Mit letzter Kraft ist sie dem vereinnahmenden Mutti-Sohn-System entkommen.
Natürlich wünscht sich jede Mutter eine enge Beziehung zu ihren Kindern. Sie will beteiligt werden, gebraucht werden. Sie wünscht sich, dass die Kinder ihr ihre Sorgen, Träume und alltäglichen Erlebnisse anvertrauen. Das ist menschlich und natürlich. Gefährlich wird es dann, wenn die Mutti einen Anspruch darauf erhebt, der wichtigste, bedeutendste und bestimmendste Mensch im Leben ihres Kindes zu sein, und zwar nicht nur in den ersten Lebensmonaten, sondern auch noch später.
Ein Kind, dessen Mutter die einzige Person ist, zu der es eine enge Bindung aufgebaut hat, bleibt für immer abhängig. Nur wenn es über viele stabile Beziehungen verfügt, findet es die richtige Balance zwischen Unabhängigkeit und Bindung. Freunde, Partner, Eltern, die eigenen Kinder, Kollegen –
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