Mutti ist die Bestie: Die heimliche Diktatur vieler Mütter (German Edition)
allmählich ablaufender Prozess. Kaum ein Lebewesen auf der Erde nimmt sich so viel Zeit dafür, seinen Nachwuchs auf eigene Beine zu stellen, wie wir. Noch vor den ersten wackeligen Schritten des Kindes ist bereits eine Menge passiert; und mit dem Ende der Schulpflicht muss dieser Prozess noch lange nicht zu Ende sein – niemand wacht an seinem 18. Geburtstag auf und ist schlagartig erwachsen.
Von Anfang an sind Kinder auf eine zugewandte, liebevolle Mutter angewiesen. In den ersten sechs bis zwölf Lebensmonaten ist das sogar existenziell wichtig. Sie ist es, die ihnen Nahrung, Wärme und Schutz gibt. Bereits während der Schwangerschaft ist diese tiefe Bindung des Säuglings an die Mutter entstanden: Er hört ihre Stimme, fühlt ihren Herzschlag, merkt, ob sie ruhig oder aufgeregt, glücklich oder unglücklich ist. Das ungeborene Kind trinkt vom Fruchtwasser, schmeckt und riecht seine Mutter. Wenn es dann auf der Welt ist, bieten die Stimme der Mutter, ihr Körpergeruch und ihre Milch ihm den nötigen Halt, um sich in dem vielen Neuen, das da täglich auf es einstürmt, zurechtzufinden. Zwischen Mutter und Baby passt oft kein Blatt Papier, und das ist auch richtig so. Diese totale Abhängigkeit in den ersten Lebensmonaten ist von der Natur so vorgesehen. Die stete und grenzenlose Fürsorge der Mutter gibt dem Neugeborenen Geborgenheit und das Gefühl, aufgehoben zu sein.
In besonderen Fällen kann auch eine andere ständig und zuverlässig anwesende Person diese Rolle übernehmen; aber ein Mutterersatz aus mehreren Personen in Wechselschicht – das funktioniert nicht. Das Kind muss die Erfahrung machen: Wenn ich etwas brauche, ist dieser eine Mensch für mich da. Wenn ich schreie, werde ich getröstet; wenn ich hungrig bin, werde ich gefüttert; wenn ich Trost brauche, werde ich gewärmt und gestreichelt, und zwar von dieser einen, zuverlässigen Person. Auf diese Weise erwirbt ein Kind das Urvertrauen, das es so dringend braucht.
Die Bindung zwischen Mutter und Kind ist die Ursprungsbindung. Sie ist die Grundlage von menschlichen Beziehungen, die erste Bindung, die den Charakter eines Menschen tief prägt, und damit der Kern der Gesellschaft. Wenn hier Wärme und Vertrauen herrschen, kann das Kind auch später, wenn es größer ist, Vertrauen und Wärme geben. Der Vater ist in dieser ersten Lebensphase nicht lebensnotwendig, aber er ist wichtig. Auch seine Stimme hat das Kind im Mutterleib gehört. Er ist es in der Regel, der den ersten Schritt des Babys zu einer eigenständigen Persönlichkeit einleitet.
Ganz konkret und alles andere als rein symbolisch geschieht das sogar in den meisten Fällen direkt nach der Geburt. Noch im Kreißsaal oder auch zu Hause im Beisein der Hebamme ist es der Vater, der die Nabelschnur durchtrennt. Damit ist der erste Schritt auf dem Weg des Kindes in seine Selbstständigkeit getan. Auch in der Folgezeit bleibt es Aufgabe des Vaters, in dem »Du bist ich, und ich bin du« von Mutter und Kind für eine Sollbruchstelle zu sorgen. So hilft er, diese Symbiose langsam aufzulösen und der Entwicklung seines Kindes Raum zu verschaffen.
Wenn das Kind in seinen ersten Lebensmonaten ab und zu vom Arm der Mutter auf den des Vaters wechselt, merkt es, dass da noch jemand anders ist. Es erkennt: Es gibt eine Welt jenseits von Mutters Gravitationskraft. Ohne den Vater als ersten Bezugspunkt außerhalb des Mutter-Kind-Systems kann ein Kind kaum mehr als Muttis Klon werden. Gerade das ist ja die Tragik bei alleinerziehenden Müttern. Ob sie nun freiwillig oder gezwungenermaßen auf den Vater des Kindes verzichten: Er ist nicht da. Er fehlt. Und er fehlt vor allem dem Kind. Je früher deshalb ein Stiefvater oder eine andere, möglichst männliche und auch sorgeberechtigte Bezugsperson fest und verlässlich ins Familiensystem eintritt, desto besser. Alleinerziehung als für das Kind völlig neutral und gleichwertig hinzustellen halte ich für reine Ideologie und für entwicklungspsychologisch nicht haltbar.
Papa ist in der geistig-seelischen Entwicklung des Kindes im günstigsten Falle also der erste und wichtigste Außenposten. Nach und nach tauchen immer mehr Bezugspersonen im Kosmos des Kindes auf: Das sind ab dem zweiten bis dritten Lebensjahr weitere Familienmitglieder, Freunde, Nachbarn, Erzieher oder Lehrer. Bei all diesen Menschen lernt es eine andere Welt kennen als die der Mutter. Mit zunehmendem Alter weitet sich der Kreis der Beziehungen aus, jeder neue Ansprechpartner bietet
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