Mutti ist die Bestie: Die heimliche Diktatur vieler Mütter (German Edition)
neue Anregungen, neue Alternativen.
Im Laufe dieser Entwicklung verlagert sich der Lebensmittelpunkt stetig. Am Anfang ist die Mutter für das Kind das Universum, am Ende steht ihre Ablösung als Zentrum des Sonnensystems.
Dabei ist nicht Unabhängigkeit das Ziel, sondern die Begrenzung der totalen Abhängigkeit. Eine gelungene Erziehung und Entwicklung des Kindes zeigt sich darin, dass es lernt, sein Leben frei und selbstverantwortlich zu führen. Gefestigt und seiner selbst sicher wird es seine Mutter auch als Erwachsener schätzen und sie teilhaben lassen an seinem Leben. In einer funktionierenden Familie bleibt man sich ein Leben lang verbunden. Doch der junge Erwachsene muss seinen Lebensweg auch ohne die Hilfe seiner Mutter meistern können.
Das beliebte »Guckguck«-Spiel von Eltern und kleinen Kindern zielt genau auf diesen Abnabelungsprozess ab. Es zeigt dem Kind: Auch wenn Mama mal ein paar Augenblicke verschwunden zu sein scheint, ist sie gleich wieder für mich da. Ich brauche sie nicht ständig um mich zu haben. Mama lässt mich manchmal los, aber nie im Stich. Sie steht immer hinter mir. Das von leichtem Grusel und überbordender Freude begleitete Spiel verschafft dem Kind dieses Vertrauen und damit eine erste Möglichkeit, seine Freiheit zu nutzen. Wenn ein Kind diesen Freiraum und diese Sicherheit hat, wird es Entdeckerfreude entwickeln und lernen, sich selbst zu vertrauen.
Kinder sind geborene Eroberer. Sie streben ganz von allein danach, selbstständig zu werden und selbstbewusst ihren Platz in einem stimmigen Beziehungsgeflecht einzunehmen. Dabei geht jedes Kind diesen Weg in seinem eigenen Tempo. Es muss weder geschubst noch gebremst werden. Die Aufgabe der Mutter ist es nur, dies zuzulassen und ihr Kind in diesem Prozess zu begleiten. »Egal was du tust: Ich bin da und fang dich auf« – das ist die wichtigste Botschaft, die sie ihm mitgeben kann. Sichtbar wird das, wenn das Kleinkind zu krabbeln und zu laufen beginnt.
Die Mutter kniet auf dem Boden und hält ihr Kind fest im Arm. Es lacht und strampelt und schaut zum Vater, der zwei Meter weiter auf der anderen Seite des Teppichs auf dem Boden hockt. Mit ausgebreiteten Armen lockt er sein Kind. Das Kind löst sich von seiner Mutter und tapst mit unsicheren Schrittchen zum Vater. Fast fällt es. Es rettet sich in Papas Arme und kräht vor Vergnügen. Die Eltern sehen sich über sein Köpfchen hinweg an, außer sich vor Stolz.
Die ersten Schritte eines Kindes führen von der Mutter weg. In die Welt, ins Leben hinein, in die Eigenverantwortung. Für die gesunde Entwicklung eines Kindes ist es notwendig, dass es schon früh erlebt: Ich kann jederzeit weggehen, um neue Erfahrungen zu machen, und sei es nur bis zur Wohnzimmertür, und wieder zur Mutter zurückkehren, mich vergewissern, dass die Basis noch da ist, und Kraft tanken. Der Hirnforscher Gerhard Roth schreibt in seinem Buch »Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten«: »Säugling und Kleinkind müssen die schwierige Balance zwischen Unabhängigkeit und Aufgehen im anderen, zwischen Trennung und eins sein bewältigen.«
Und die Mutter? Sie muss zulassen, dass ihr Kind sich von ihr abwendet. Und sei es für Sekunden. Ob es in ein Bilderbuch schaut, statt auf Mama, oder ob es im Kindergarten zu seinen Freunden rennt, ohne zurückzublicken – es ist ihr Job, das auszuhalten, zuzulassen und sogar zu fördern. Die Mutter muss einfach nur da sein, immer wieder loslassen und als sicherer Hafen zur Verfügung stehen – das ist ihre Aufgabe.
Das Gelingen oder Scheitern dieses frühen Beziehungsmusters prägt die Persönlichkeit des Heranwachsenden. Bis zum vierten Lebensjahr sind 80 Prozent aller Verbindungen im Gehirn des Kindes mit allen seinen bis dahin gemachten Erfahrungen bereits geschaltet. Ob ein Mensch sich vertrauensvoll und selbstbewusst in der Welt bewegt oder gedrückt und angstvoll – in den ersten vier Lebensjahren werden die Weichen dazu gestellt. Damit ist ein Großteil dessen, was den späteren Platz des Kindes in der Gesellschaft bestimmt, zu diesem Zeitpunkt schon festgelegt und kann nur unter großen Mühen noch verändert werden. Was in späteren Jahren hinzukommt, sind Fahrradfahren, kleines Latinum, die Vorliebe für einen bestimmten Rotwein und … die große Liebe.
Ein Kind groß werden zu lassen hört sich gar nicht so schwer an. Ist es eigentlich auch nicht. Aber es gibt eben nicht nur Mamas, sondern auch Muttis. Und die denken nicht im Traum daran, sich
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