Mutti ist die Bestie: Die heimliche Diktatur vieler Mütter (German Edition)
1,4 Prozent der Jungen.
Das sind die Fakten. Von Missbrauch als einer gesellschaftlichen Randerscheinung kann also nicht die Rede sein. Es geschieht mitten unter uns. In jeder Schulklasse, jeder Kindergartengruppe ist statistisch gesehen ein Kind, das körperlich misshandelt oder sexuell missbraucht wird. Dabei sind Gewalt und sexueller Missbrauch keineswegs ein Unterschichtphänomen, sondern ebenso in Mittel- und Oberschicht zu finden. Dort werden sie oft nur besser kaschiert.
Stellen wir das Objektiv schärfer: Es wird in der öffentlichen Wahrnehmung ein deutlicher Unterschied gemacht, ob ein Täter das Kind sexuell missbraucht oder »nur« durch körperliche Gewalt quält. Für das eine scheint es keine Entschuldigung zu geben. Für das andere sehr wohl: Bei Kindesmisshandlung ohne sexuelle Gewalt werden Gründe und Entschuldigungen gefunden, das Kind sei schwierig gewesen, die Eltern überfordert und dergleichen. Für mich, der vor allem die psychisch-seelischen Folgen der Misshandlungen sieht, ist diese Abstufung nicht sinnvoll. In beiden Fällen sind die körperlichen Übergriffe so massiv, dass lebenslange schädliche Folgen in der Psyche fast unvermeidlich sind. Beide Formen der Gewalt sind aus meiner Perspektive gleichermaßen, ohne Abstufung, absolut unentschuldbar. Es gibt da auch keine Entschuldigung oder Rechtfertigung durch die eigene Leidensgeschichte des Täters in der eigenen Kindheit. Erwachsene sind für ihre Taten verantwortlich, egal, was ihnen selbst angetan worden ist. Die Leiden der eigenen Kindheit zu durchleuchten kann den Tätern helfen, sich unter Kontrolle zu bringen, aber sie können die Verantwortung und Schuld nicht schmälern.
Die heimliche Gewalt der Muttis
»Mama, ich will zu dir!«
»Nein, Kind, erst wenn der Alte mit dir fertig ist!«
So verliefen die abendlichen Dialoge zwischen der damals erst dreijährigen Waltraud und ihrer Mutter. Erst wenn sich ihr Vater an ihr befriedigt hatte, durfte sie im Elternbett über die Besucherritze zur Mutter rutschen und dort kuschelnd einschlafen. Nachts wurde sie dann schlafend von der Mutter in ihr eigenes Bett getragen. Ihrer Mutter war die Nähe zu dem als »armseliger Versager« bezeichneten Ehemann einfach nur lästig, und sie benutzte ihre kleine Tochter zu ihrer eigenen Entlastung.
Diese Geschichte wurde aber erst im Laufe einer mehrjährigen Therapie der 47-jährigen Gymnasiallehrerin Waltraud aufgedeckt, die wegen Depressionen und Ängsten zu mir kam. Sie hatte damals eine erfolglose Beratung bei einer Mentorin sowie eine gescheiterte Therapie bei einer Therapeutin hinter sich. Beide Frauen besprachen nur den Missbrauch durch den Vater mit ihr – die Mittäterschaft der Mutter blieb immer außen vor. Es stellte sich erst durch die intensive und bisher blockierte emotionale Erinnerungsarbeit die dominante Position der Mutter heraus, die ihre kleine Tochter sogar an fremde Männer vermittelt hatte, um die Familienkasse aufzubessern. Der Durchbruch in der langen und für die Patientin sehr schmerzvollen und tränenreichen Therapie trat erst ein, als sie ihre auch bildhaften Erinnerungen mit den begleitenden und bisher verdrängten aggressiven Gefühlen auch ihrer Mutter gegenüber zulassen und verarbeiten konnte. So war es Waltraud endlich möglich, vertieftes Vertrauen in sich selbst und andere zu erwerben, eine liebevolle neue Beziehung mit einem Mann einzugehen, im Alltag lebendig zu leben und zu arbeiten.
Sexueller Missbrauch von Kindern durch Frauen kann verschiedene Formen annehmen: Da ist die erwachsene Frau, die halbwüchsige Jungen verführt und sie zu Handlungen drängt, die ihnen eigentlich nicht ganz geheuer sind. Da ist die Mutter, die die Körperpflege zu sexuellen Handlungen benutzt. Da sind aber auch Frauen, die Kinder schlagen, misshandeln und demütigen – aus eigener Initiative oder von ihren gewalttätigen Partnern dazu gedrängt. Oder Frauen, die ihre eigenen Kinder oder Schutzbefohlene Männern zum Missbrauch überlassen, wie es Waltraud erfahren musste.
Bei der Umfrage des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen berichteten 1,8 Prozent der weiblichen Missbrauchsopfer und 16,9 Prozent der männlichen, dass Frauen die Täter waren. »Die Annahme, dass Frauen, die sexuell missbrauchen, weniger gewalttätig sind als Männer, ist nicht richtig. Die Formen der Gewalt, ihre Intensität, Häufigkeit und Perversion sind ähnlich. Für die Opfer sind die Folgen des Missbrauchs durch eine Frau nicht
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