Mutti ist die Bestie: Die heimliche Diktatur vieler Mütter (German Edition)
Fehler ausgegraben und breitgetreten. Schnell stand die Forderung nach seinem sofortigen Rücktritt im Raum. Mehr noch als die Umstände der Kreditnahme wurde Wulff zum Vorwurf gemacht, dass er so lange über die Vorgänge geschwiegen, nur sehr lückenhaft Auskunft gegeben oder schlichtweg falsche Angaben gemacht hatte. Verübelt wurde ihm auch, dass er offenbar versucht hatte, die Presse kraft seiner präsidialen Macht zum Schweigen zu bringen.
Doch unabhängig von seinen Affären, seinen Verhaltensweisen und seinem fragwürdigen taktischen Geschick als Politiker – hätte es für ihn überhaupt ein Ausweichmanöver gegeben? In unserer Gesellschaft hat jemand in Wulffs Position, dem ein Fehler nachgesagt wird, kaum noch eine Chance. Ist er erst einmal in den Fokus geraten, ist es auch schon um ihn geschehen. Gesteht er seinen Fehler ein, wird er von allen Seiten kritisiert und umgehend gefeuert. Wer sich an den Pranger gestellt sieht, hat keinen vernünftigen Handlungsspielraum mehr. Am Ende steht fast immer der Rücktritt: Lothar Späth, Cem Özdemir, Philipp Jenninger, Gregor Gysi, Uwe Barschel, Willy Brandt, Max Streibl, Karl-Theodor zu Guttenberg, Horst Köhler, Björn Engholm und viele Politiker mehr traten zurück, nachdem sie einen Fehler gemacht hatten und dafür ins Sperrfeuer der Öffentlichkeit geraten waren. Andere weigerten sich zurückzutreten und wurden entlassen, beispielsweise Rudolf Scharping oder Norbert Röttgen. Es braucht schon einen Menschen vom Format eines Bill Clinton und die geballte Macht seiner Gönner und Förderer, um einen Sturm wie den Lewinsky-Skandal zu überstehen. In Deutschland hat das in den letzten Jahrzehnten keiner geschafft.
Ein Mensch, dem die typische öffentliche Treibjagd nach einem Fehltritt zuwider ist, kann eigentlich nur dem Beispiel von Bischöfin Margot Käßmann folgen und beim geringsten Fehlverhalten sofort von sich aus zurücktreten. Aber auch hier gehen Kritik und Neid eine unheilige Allianz ein: Immerhin habe es Frau Käßmann durch ihre Trunkenheitsfahrt und die anschließende öffentliche Reue zu erheblicher öffentlicher Aufmerksamkeit gebracht, ätzten manche. Ihre Bücher verkauften sich nach ihrem Rücktritt erstaunlich gut, bemerkten andere bissig. Allerdings: Sie ist offensichtlich so früh zurückgetreten, dass sie dadurch vermieden hat, öffentlich zu sehr durch den Dreck gezogen zu werden. Dadurch ist ihr Ansehen kaum beschädigt worden, und somit ist es abzusehen, dass sie es bald wieder auf einen führenden Posten schaffen kann, wenn sie will. Vermutlich hat sie es ziemlich schlau angestellt.
Aber ist das wirklich so, wie es in einer freiheitlichen, rechtsstaatlichen Demokratie sein sollte? Wie auch immer eine Person der Öffentlichkeit mit eigenen Fehlern umgeht, es haftet ihr der Verdacht an, ihre öffentliche Reaktion sei politisch kalkuliert und nicht ganz ehrlich. Ganz gleich, was man von Christian Wulff oder Margot Käßmann hält: Auf diese Weise vertreiben Medien und Öffentlichkeit schnell sämtliche kompetenten und zur Verantwortung bereiten Persönlichkeiten von der öffentlichen Bühne. Denn verantwortungsbewusstes Handeln ist nur dann möglich, wenn jemand zu seinen Fehlern stehen kann, ohne dass er gleich geächtet wird.
Was ich nie höre in solchen Fällen, sind Sätze wie dieser: »Hier habe ich falsch gehandelt, ganz klar, das sehe ich heute auch ein, damals war es mir aber nicht bewusst. Ich habe aus diesem Fehler gelernt, er wird mir darum nicht wieder unterlaufen, und deshalb bin ich für dieses Amt auch weiterhin geeignet.« Dem Betroffenen bliebe die Möglichkeit, aus der Vergangenheit zu lernen und sich zu einer gereifteren Persönlichkeit fortzuentwickeln, anstatt abgestraft und in die Wüste geschickt zu werden.
Doch schon die Medien lassen einen solchen Lern- und Reifungsprozess nicht zu. Sie müssen jede Woche eine neue Sau durchs Dorf treiben, um das Interesse ihrer Leser und Zuschauer nicht zu verlieren. Ihre Palette enthält nur Schwarz und Weiß: hier der strahlende Held, dort der finstere Schurke. Schuldig oder nicht schuldig, hopp oder topp. Die Wahrheit muss in eine Überschrift passen. Die gerechte Abwägung der Verdienste und Leistungen eines Menschen mit seinen Fehlern ist so wenig vorgesehen wie die Annäherung an die komplexe Wirklichkeit. Dieser Lump hat gesündigt, steinigt ihn! Auf diese Weise wird das öffentliche Bewusstsein mit Emotionen und nur wenigen, selektiven Informationen gefüttert.
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