Mutti ist die Bestie: Die heimliche Diktatur vieler Mütter (German Edition)
zu blöd, ich mach nicht mehr mit« ist für ein fundamentalistisches System also keine Option. Die Schotten sind dicht.
In einen Sportverein dagegen kann jedes Mitglied einen interessierten Freund zum Training mitbringen. Vielleicht gefällt es dem ja im Verein, und er wird auch Mitglied. Vielleicht gefällt es ihm aber auch nicht, oder andere Vereinsmitglieder haben etwas gegen ihn. Dann bleibt er eben draußen. In einem solchen System sind die Grenzen in beide Richtungen durchlässig. Alle Beteiligten haben die Möglichkeit, sich zu verändern und sich immer wieder neu zu entscheiden.
Solche flexiblen Gruppen sind wie ein Haus, in dem man sich wohlfühlt. Es hat eine Haustür, die der Bewohner jederzeit öffnen kann, um nach draußen zu gehen oder Besucher einzulassen. Gäste sind willkommen, haben aber keinen Anspruch darauf, immer und unter allen Umständen empfangen zu werden. Denn der Bewohner kann die Tür auch schließen, um mal seine Ruhe zu haben und sich zurückzuziehen. Austausch und Geborgenheit – beides ist möglich, und beides ist für Menschen gleich wichtig.
Flexibel oder abgeschottet – es ist offensichtlich, zu welchem dieser Gruppentypen das Mutti-System gehört. Die Familie ist in diesem Sinne nur ein Spezialfall eines Mutti-Systems. Mutti ist darin der formelle oder informelle Chef. Sie allein macht die Regeln: Es wird mittags um ein Uhr gegessen, Cola kommt nicht auf den Tisch, Fernsehen gibt es erst, wenn die Hausaufgaben gemacht sind, Schuhe werden an der Wohnungstür ausgezogen, und vor allem: Muttis Anweisungen werden nicht infrage gestellt. Mutti bestimmt auch, wer rein und wer raus darf. Welche Freunde zu Besuch kommen dürfen und welche nicht. Ob die Kinder außerhalb übernachten dürfen oder zu Hause bleiben müssen, obliegt allein ihrer Entscheidung. Sie sorgt dafür, dass die Mitglieder des sozialen Systems so fühlen, denken und schließlich auch handeln, wie Mutti es für richtig hält. Das Mutti-System ist eine hermetisch geschlossene Gruppe mit genau zwei Hierarchiestufen: erstens Mutti und zweitens alle anderen.
Ein Murmelspiel dauert nur einen Nachmittag. Morgen schon können die Mitspieler alles über den Haufen werfen und sich andere Regeln ausdenken. Das Mindesthaltbarkeitsdatum von Muttis Regeln ist aber unbegrenzt. Sie wirken von der Wiege bis zur Bahre – und oft genug über Muttis Tod hinaus. Denn sie werden so verinnerlicht, dass sie sich schließlich in Gewohnheiten, Vorlieben und Moralvorstellungen verwandeln, die die so Erzogenen für ihre eigenen halten.
Wird die Kontrollsucht der Mutti nicht durch eine andere Instanz gebrochen oder wenigstens eingeschränkt, behält Mutti die Zugbrücke oben. Wir gegen den Rest der Welt. Das Mutti-System ist dann ein abgegrenzter Raum mit Mutti als Wärterin und den Mitgliedern als Insassen. Mutti hat die Schlüsselgewalt. Mit anderen Worten: Sie beaufsichtigt ein Gefängnis, und die Insassen haben, wenn es nach Mutti geht, keine Aussicht auf Entlassung.
Wer von außen hineinzugelangen versucht, sieht sich in Mutti schnell dem Türhüter aus Kafkas Parabel »Vor dem Gesetz« gegenüber:
»Der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. ›Es ist möglich‹, sagt der Türhüter, ›jetzt aber nicht.‹«
Null oder eins
Sechs Frauen sitzen miteinander im Café. Eine, anscheinend die Wortführerin der Clique mit deutlich dominanten Zügen, hat die Angewohnheit, vom Essen der anderen zu naschen. Plötzlich, ohne zu fragen, steckt sie ihren Finger in den Bienenstich ihrer Nebensitzerin, erbohrt sich einen ordentlichen Klecks Sahnecreme und schleckt den Finger genüsslich ab. Als ihre Nachbarin protestiert, reagiert die Dominante sauer und kanzelt die Aufsässige lauthals als kleinkarierte Spießbürgerin ab. Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, steht sie auf, packt den Tisch, hebt ihn an und lässt ihn wieder auf den Boden krachen.
Nicht ohne Süffisanz schilderte die Frankfurter Allgemeine Zeitung diese Szene im November 2010 in ihrem Politikteil. Denn die Domina, die hier ihrem Rudel zeigt, wer die Anführerin ist, und die Szene so zum Politikum macht, ist Alice Schwarzer.
Im gleichen Artikel erinnert die FAZ auch daran, wie die bekannteste und provokanteste deutsche Vorkämpferin für die Frauenrechte Alice Schwarzer in den 70er-Jahren mit Elan daran arbeitete, die Frauenbewegung zur Lesbenbewegung zu machen.
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