Mutti ist die Bestie: Die heimliche Diktatur vieler Mütter (German Edition)
harmoniesüchtigen Familien gilt die Regel, dass eigene Bedürfnisse zugunsten der anderen zurückgestellt werden. Der nahezu völlige Verzicht auf Nahrung ist die extreme und demonstrative Form dieser Zurücknahme. Damit kann sich die Magersüchtige, entgegen dem in ihr tobenden Wunsch nach mehr Individualität, als »gutes Kind« präsentieren. Gleichzeitig ist die absolute Beherrschung des eigenen Körpers und der eigenen Bedürfnisse die einzige Art von Kontrolle, die sie zu haben glaubt. Denn sonst schreibt ja immer Mutti vor, was getan, gesagt, gedacht wird. Mit der Magersucht übt die Pubertierende zum ersten Mal Macht über ihr eigenes Leben aus. Außerdem wird durch das Hungern die körperliche Veränderung der Pubertät hinausgeschoben. Brüste können nicht wachsen, die Figur bleibt kindlich. Auch die Periode bleibt meist aus, wenn der Körper nicht genug Nährstoffe bekommt. So vermeidet die Magersüchtige, erwachsen werden zu müssen.
Anorexie entsteht also, wenn die Konflikte und Veränderungen, die die Pubertät mit sich bringt, nicht ausgelebt werden können. Die Konflikte werden auf eine symbolische Ebene verlagert, der Kampf dreht sich nur noch ums Essen, nicht mehr um Individualität. So behält die Mutti-Tochter in verquerer Logik die Möglichkeit, auf sich aufmerksam zu machen und sich trotzdem weiterhin als liebes Kind zu präsentieren.
Sowohl für die Kranke als auch für ihre Familie ist diese Situation schwer zu ertragen. Und es ist nicht leicht, da herauszukommen, denn dazu müsste sich die ganze Familienstruktur verändern. Die Eltern müssten ihr Kind ermutigen, eine individuelle und selbstbestimmte Erwachsene zu werden. Und genau das ist in der Mutti-Familie nicht vorgesehen.
Ob Magersucht oder Fettleibigkeit: Momentane Bedürfnisse werden umgehend befriedigt oder restlos unterdrückt. Auch der Konsum von Nichtessbarem ist längst vom eigentlichen Bedürfnis entkoppelt. Wer braucht zwei Dutzend Hemden, wer 30 Paar Schuhe? Flatratesaufen auf der einen Seite, Schnäppchenjagd auf der anderen. Es herrscht allgemeine Maßlosigkeit. Doch wo überhaupt kein Maß zu erkennen ist, gibt es auch keine Grenzen mehr. Für die Einzelperson ist das im Extremfall lebensgefährlich. Aber auch die Gesellschaft leidet an den schwereren Folgen dieser Grenzenlosigkeit.
Das große Wischiwaschi
Grenzen bedeuten Klarheit: Sie unterscheiden zwischen sinnvoll und sinnlos, zwischen nützlich und schädlich. Sie bestimmen Zeiträume. Das Abendessen ist mit dem Zähneputzen eindeutig beendet. Grenzen setzen heißt festzulegen: Nein, ich will das nicht. Der Zaun sagt: Hier hört der öffentliche Badestrand auf, und das Privatgelände beginnt. Das Kompetenzprofil sagt: Das hier ist der Aufgabenbereich des Ministeriums für Arbeit, jenes Thema gehört in die Hoheit des Wirtschaftsministeriums. Falls es denn ein solches Kompetenzprofil gibt und es klar formuliert ist.
Grenzenlosigkeit hat zur Folge, dass alles in einem Einheitsbrei ineinander verschwimmt. Es gibt keine Trennung in: Das liegt in meiner eigenen Verantwortung, jenes in der Verantwortung von Mama, und für das Dritte ist die Gesellschaft insgesamt verantwortlich. Wenn nicht klar geregelt ist, wer für etwas einzustehen hat, ist es niemand. Es ist nicht nur der Einzelne, der Verantwortung meidet. Die Gesellschaft gesteht ihm auch keine zu.
Wie ist diese Grenzenlosigkeit zu ertragen? Man wird in der Schwebe gehalten wie ein Fötus im Fruchtwasser. Im Fruchtwasser von Mutti Staat. Nur: Der echte Fötus wächst von allein, folgt seiner biologischen Programmierung. Erwachsene Menschen müssen sich schon selber anstrengen, wenn sie wachsen und sich verändern wollen. Der dem Menschen innewohnende Drang, sich zu entwickeln, wird nur zu leicht durch stete Verwöhnung ausgehebelt. Wo es keinen Anreiz für Entschlusskraft und Verantwortung gibt, kann es auch keine Entwicklung geben. Weder im Leben des Einzelnen noch in der Gesellschaft kann sich so irgendetwas fundamental ändern.
Das ist nur auszuhalten von Leuten mit einem gelähmten, unterentwickelten Ich. Von Leuten, die von der Mutti-Erziehung her gewöhnt sind, weder sich selbst noch ihre Mitmenschen, noch ihre Umwelt zu reflektieren. Wer sich selbst nicht sieht, erkennt auch das Problem nicht. Der Stillstand der Gesellschaft und meiner Persönlichkeit kann mich nicht stören, weil ich gar nicht realisiere, dass es auch Entwicklung geben könnte. Und das realisiere ich nicht, weil alle anderen sich auch
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