My Lady 0145 - Sheila Bishop - Der geraubte Kuss
bis die Cousine sich eingelebt hatte, reiste Mitte August nach Parmouth zurück und mußte nach der Ankunft unzählige eifrige Fragen beantworten. Sie versicherte der Tante und dem Onkel, daß Hetty ein sehr angenehmes Dasein führe und mit ihrem Los zufrieden sei.
Dann erkundigte sie sich, was inzwischen in Parmouth geschehen sei, und erfuhr, der Ort sei voller Sommergäste und jedes Haus vermietet.
Auf der Fahrt von Cheshire hatte Olivia die Hoffnung genährt, Mr.
Brooke möge Parmouth verlassen haben, ehe sie zurück war. Sie wollte ihn niemals wiedersehen. Die letzte, ärgerliche Begegnung mit ihm war ihr noch zu lebhaft in Erinnerung. Da niemand seinen Namen erwähnte, vermutete sie, er sei tatsächlich abgereist.
Am nächsten Tag fand ein Kricketspiel statt. Eine Mannschaft aus ortansässigen jungen Herren spielte gegen eine Gruppe Urlauber. Das Spiel war das Ereignis des Jahres und wurde auf dem Rasen zwischen dem Strand und der Uferpromenade ausgetragen. Olivia entschied sich für ein hübsches, mit schmalen schwarzen Borten verziertes zitronengelbes Chemisenkleid und einen dazu passenden federgeschmückten Turban, nahm ein rüschenbesetztes Sonnenschirmchen und mischte sich mit den Verwandten bei herrlich warmem, sonnigem Wetter unter die Zuschauer. Man begrüßte Freunde, machte neue Bekanntschaften und schlenderte gemächlich weiter.
„Was ist eigentlich aus der dummen Person geworden, die sich im letzten Jahr so lächerlich aufgeführt hat?“ hörte Olivia eine Frau fragen, die zwischen zwei Herren auf einer Bank saß. Erschrocken blickte sie zu ihrem Onkel und der Tante hinüber, doch die beiden waren bereits ein Stückchen vorausgegangen und hatten die Bemerkung offensichtlich nicht vernommen. Neugierig geworden, blieb sie stehen.
„Wen meinst du, Susan?“
„Nun, diese alberne Gans, die Tom so unverfroren nachgestellt hat. Ich kann sie nirgendwo sehen.“
Olivia wollte wissen, wer so abfällig über Hetty redete, ging langsam um die Bank und sah sich plötzlich Mr. Brooke gegenüber.
Er stand auf, verneigte sich und sagte verlegen: „Guten Morgen, Miss Fenimore.
Seit wann sind Sie wieder in Parmouth?“
Sie war so überrascht, ihn vor sich zu haben, daß es ihr die Sprache verschlug.
Auch ihm war anzusehen, daß er sich unbehaglich fühlte. Vermutlich war ihm bewußt, daß sie die boshaften Äußerungen seiner Begleiterin gehört hatte, und nun störte es ihn wahrscheinlich, daß sie ihn für einen eingebildeten Lebemann hielt.
„Susan, William“, wandte er sich an seine Freunde und schaute sie warnend an,
„ich möchte euch Miss Olivia Fenimore vorstellen. Miss Fenimore, das sind Colonel Twisden und seine Gattin.“
Susan errötete und murmelte eine höfliche Begrüßung.
William stand hastig auf und verneigte sich vor Miss Fenimore.
„Möchten Sie sich setzen?“ fragte Tom und wies auf die Bank.
„Nein, danke, Sir!“ lehnte Olivia das Angebot kühl ab. „Ich möchte nicht stören.“ Suchend blickte sie sich um, erkannte auf dem Spielfeld einen Herrn und fragte hastig: „Ist der Schläger nicht Mr. Cottle?“
„Ja, aber ich fürchte, er wird das nicht mehr lange sein“, antwortete Tom.
Der vom Sohn des Vikars mit wuchtigem Schlag durch die Luft geschleuderte Ball landete in den Händen des Dreistabhüters.
„Nun ist die Reihe an mir, mich zum Gespött der Leute zu machen“, murmelte Tom bedauernd.
Olivia bemerkte erst jetzt, daß er ein weißes, am Hals offenes Hemd und weite Nankinghosen trug und offensichtlich zu den Spielern zählte.
Er nahm den langen Kricketschläger, schlenderte gemächlich auf den Rasen und nahm vor dem Dreistab Aufstellung. Er parierte den ersten Schlag des Werfers und schleuderte den Ball zum Meer.
Olivia verabschiedete sich von den Twisdens und gesellte sich zu Flora, die das Mißgeschick des bedauernswerten Walter Cottie beklagte. Sie gingen zum Ende des Spielfeldes, fanden unter einer Kastanie eine leere Bank und setzten sich. Mr.
Brooke spielte mit großer Präzision und rannte zwischen den Dreistäben hin und her, ständig den Platz mit Mr. Channing, dem anderen Schläger, tauschend.
Flora beobachtete ihn, während Olivia Mr. Brooke im Auge behielt. Sie fand, sie habe noch nie jemanden gesehen, dessen Bewegungen so viel männliche Energie ausstrahlten. Warum sie von Thomas Brooke fasziniert war, hätte sie jedoch nicht erklären können. Er war keinesfalls der bestaussehende Mann, der ihr je begegnet war. Aber er übte eine
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