My Lady 0145 - Sheila Bishop - Der geraubte Kuss
Singstimme hatte sie nicht erkannt, doch die Sprechstimme war unverkennbar. Es war nicht Mr. Walsh, der im Duett mit ihr gesungen hatte, sondern Thomas Brooke. Sie drehte sich um und sah ihn vor sich stehen, ein leicht spöttisches Lächeln auf den Lippen.
„Sie müssen mir vergeben, Madam“, sagte er. „Dem Charme dieses Liedes kann ich nie widerstehen.“
„Sie haben es mit viel Gefühl vorgetragen“, erwiderte sie und dachte unwillkürlich daran, wie oft er es wohl seinen wechselnden Mätressen vorgesungen haben mochte. Sie stand auf und war froh, daß man sie nicht aufforderte, noch etwas zu singen. Das Orchester stimmte die Instrumente, und die Gäste kehrten in den Ballsaal zurück.
Olivia stand neben Mr. Brooke und hatte plötzlich den Wunsch, mit ihm zu tanzen. Sie hatte zwar kein größeres Vertrauen zu ihm gefaßt, jedoch begriffen, wie übereilt, zimperlich und dumm die vorherige Weigerung gewesen war. Im Ballsaal konnte er ihr schließlich nicht zu nahe treten. Die Musik setzte ein, und verstohlen warf Olivia ihm einen Blick von der Seite zu. Das Lächeln war geschwunden, und seine Miene war abweisend, fast feindselig.
„Haben Sie keine Angst, Madam“, sagte er kühl. „Ich werde Sie nicht zum Walzer auffordern.“ Er verneigte sich und mischte sich unter die Gäste.
Sie war wütend. Seit sie eine linkische Sechzehnjährige gewesen war, hatte sie nie mehr ohne Tanzpartner dagestanden. Sie blieb jedoch nicht lange allein. Ein Marineoffizier erlöste sie aus der peinlichen Situation. Als der Ball zwei Stunden später ausklang, war sie froh, mit Flora und deren Eltern heimkehren zu können.
4. KAPITEL
In den Tagen nach dem Fest des Kricketclubs sah Olivia Mr. Brooke nur von weitem. Sie hatte jedoch Gelegenheit, Vale Manor von innen zu betrachten. Nun, da Hetty nicht mehr in Parmouth weilte, hatten die Fenimores keinen Grund, sich den dort wohnenden und mit ihnen befreundeten Channings fernzuhalten.
Olivia und Flora suchten sie oft auf, hin und wieder begleitet von Miss Osgood.
Weilte Madeleine bei den Channings, war auch Mr. Cottle dort anzutreffen. Er war ein Freund Bernard Channings, wußte wie er nicht recht, was er mit sich anfangen sollte, und hatte auch nie viel Geld in der Tasche. Er hatte das Studium in Oxford erfolgreich abgeschlossen, war indes noch zu jung, um ordiniert zu werden.
Eines Morgens wurden Pläne für ein Picknick gemacht, das anläßlich des neunten Geburtstages von Polly, der mittleren drei Töchter der Channings, im Moor stattfinden sollte.
„Ich wünschte, du könntest mit uns kommen, Papa“, sagte sie und lehnte sich an seinen Stuhl. Aber sie wußte, daß die Lungenkrankheit, die er sich nach einem Schiffbruch durch tagelangen Aufenthalt im Rettungsboot auf offenem Meer zugezogen hatte, ihn zu sehr schwächte.
„Ich würde euch gern begleiten“, erwiderte er und strich ihr sacht über das Haar.
„Erzähl mir später, wie es beim Picknick war. Ihr werdet eine ziemlich große Gesellschaft sein, nicht wahr?“
„Ja, meine Schwestern, Mama, Bernard, Miss Flora Fenimore, Miss Osgood und Mr. Cottle“, antwortete Polly. „Sie kommen ebenfalls, nicht wahr, Miss Fenimore?“
„Mit dem größten Vergnügen“, sagte Olivia. Sie fühlte sich geschmeichelt, eingeladen zu werden, da sie für die Kinder eigentlich noch eine Fremde war.
„Hoffentlich stört es Sie nicht, daß es bei unseren Picknicks nie sehr geruhsam zugeht“, warf Martha Channing ein. „Ich befürchte, die Kinder werden Sie arg durch die Heide scheuchen.“
„Ach, das macht mir Spaß. Wie kommen wir ins Moor?“
„In zwei Kutschen. In der Remise steht ein Landauer, den Mr. Brooke uns zur Benutzung zur Verfügung gestellt hat. Bernard wird ihn fahren, und Mr. Cottle lenkt das Gig seines Vaters. Im Landauer haben vier Personen Platz, und Mr.
Cottle kann einen Erwachsenen und ein Kind mitnehmen.“
„Dann muß jemand laufen“, bemerkte Randolph Channing trocken. „Anders wird es nicht gehen. Ihr könnt nicht neun Leute auf acht Plätze pferchen.“ Allgemeine Enttäuschung machte sich breit, denn die Proviantkörbe mußten ebenfalls transportiert werden. Die Teilnehmer wurden noch einmal gezählt, und Olivia merkte, daß sie darauf verzichten mußte, am Picknick teilzunehmen. Der Gedanke, jemand müsse sich zu Fuß ins Moor begeben, konnte von vornherein nur als Scherz zu verstehen gewesen sein, denn die Entfernung war viel zu groß.
Plötzlich kam Olivia ein Einfall. „Ich werde
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