My Lady 0145 - Sheila Bishop - Der geraubte Kuss
seltsame Anziehungskraft auf sie aus, und sie konnte nicht widerstehen, ihn zu betrachten. Sie war froh, daß niemand ihr Verhalten unschicklich finden würde, denn schließlich war er der Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Dennoch verwirrte es sie, daß sie so von ihm in Bann gezogen wurde.
Stunden später, als sie in ihrem Zimmer war und sich zum Ball umkleidete, den die Kricketspieler im Kurhaus veranstalteten, schalt sie sich eine Närrin und warf sich vor, viel zu empfänglich für Mr. Brookes maskulines Flair gewesen zu sein.
Sie verabscheute und mißtraute ihm aus Gründen, die nichts mit seinem Benehmen Hetty gegenüber zu tun hatten oder damit, daß er in Maygrove ein Haus besaß, um dessen Ruf es nicht zum besten stand.
Der Ballsaal war überfüllt, und kaum hatte Olivia ihn mit den Angehörigen betreten, näherte sich ihr Mr. Walsh, den sie am Vormittag kennengelernt hatte.
Er war ein netter, ruhiger Mann, der vor einem Jahr die Gattin verloren hatte, und ganz das Gegenteil von Thomas Brooke. Auch Mr. Brooke hatte sie inmitten seiner Verehrer sofort bemerkt. Er war der Held des Kricketspieles, denn die Ortsansässigen hatten es gewonnen.
Er sah, daß sie zu ihm herüberschaute, entschuldigte sich bei seinen Bewunderern und ging zu ihr. „Guten Abend, Miss Fenimore“, begrüßte er sie.
„Würden Sie mir die Gunst erweisen, den Ball mit mir zu eröffnen?“ Sie war nicht gewillt, mit ihm zu tanzen, und antwortete rasch: „Ich danke Ihnen für die Ehre, Sir, habe den ersten Tanz jedoch bereits Mr. Walsh versprochen.“ Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Frederick Walsh hatte Miss Fenimore gebeten, mit ihm zu tanzen, jedoch auf keinem bestimmten Tanz bestanden. Da er ein perfekter Kavalier war, ließ er sich die Überraschung nicht anmerken und reichte Miss Fenimore den Arm.
Tom hatte Mr. Walshs kurzes Zögern bemerkt und erwiderte kühl: „Dann bedauere ich die Störung, Madam.“ Er verneigte sich und mischte sich unter die Gäste.
Frederick führte Miss Fenimore auf das Parkett. „Wenn ich mich nicht irre, wollten Sie nicht mit Mr. Brooke tanzen“, sagte er lächelnd.
„Er ist unerträglich eingebildet, und ich hasse es, herablassend behandelt zu werden. Es tut mir leid, daß ich Ihre Bitte um einen Tanz zum Vorwand genommen habe, ihm zu entkommen.“
„Sie müssen sich nicht entschuldigen, Madam. Ich bin entzückt, mit Ihnen zu tanzen. Allerdings hatte ich nicht den Eindruck“, fügte Frederick nachdenklich hinzu, „daß Mr. Brookes Benehmen hochnäsig war.“
Die Paare nahmen Aufstellung. Mr. Brooke führte den Reigen an, da er der Kapitän des Kricketclubs von Parmouth war, dem Veranstalter des Abends.
Olivia ärgerte es plötzlich, daß sie abgelehnt hatte, den Ball mit ihm zu eröffnen.
Entschlossen verdrängte sie die Enttäuschung und wandte die Aufmerksamkeit Mr. Walsh zu.
Im Verlauf des Balles hatte sie viele Tanzpartner und bekam Mr. Brooke kaum zu Gesicht. Bei den Quadrillen und Rounds and Longways befand er sich stets in einer anderen Reihe. Sie tanzte noch einmal mit Mr. Walsh, der sie auch zu Tisch geleitete. Nach dem Souper schlug jemand vor, Miss Osgood möge bis zum Beginn der zweiten Ballhälfte etwas vorsingen.
Madeleine war geschmeichelt, schaute jedoch ängstlich die Mutter an.
„Nein“, sagte Alice Osgood streng, „meine Tochter ist noch zu jung, um in der Öffentlichkeit aufzutreten. Vielleicht sind Sie so reizend, Miss Fenimore, für Madeleine einzuspringen?“
Olivia überlegte kurz, nickte dann und schlenderte zum Pianoforte. „Ich habe keine Noten bei mir“, verkündete sie, „und würde es niemandem übelnehmen, wenn er die Flucht ergreift, ehe ich zu singen beginne.“ Niemand suchte das Weite.
Mr. Walsh rückte einen Stuhl vor das Instrument und trat respektvoll einen Schritt zurück.
Olivia nahm Platz und intonierte eine von Tom Moores „Irischen Weisen“, ein schlichtes, gemütvolles Lied. Sie war gewohnt, vor Publikum zu singen, und wußte, daß sie eine hübsche, klare Stimme hatte.
Nach einem Moment fiel hinter ihr unerwartet eine kräftige Baritonstimme in den Gesang ein.
Sie hätte nicht gedacht, daß der gesetzt wirkende Mr. Walsh so ungeniert sein könne.
Der Vortrag wurde mit viel Beifall bedacht, und plötzlich, als es stiller geworden war, sagte der Sänger: „Ich bitte um Entschuldigung, Miss Fenimore, daß ich mich an Ihrem Gesang beteiligt habe. Das war ungehörig.“ Sie erstarrte innerlich. Die warm timbrierte
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