My Lady 0145 - Sheila Bishop - Der geraubte Kuss
herrliche Gegend durch eine Reihe von Häusern zu verschandeln, doch ein Gentleman gab ihr zu bedenken, daß selbst der schönste Ausblick vergeudet sei, wenn es niemanden gäbe, der ihn bewundern könne.
Olivia sonderte sich von den anderen ab und folgte dem Pfad neben einem Bächlein, das von den abfallenden Klippen plätscherte und in einer schmalen Rinne ins Meer floß. Sie stieg höher auf die Steilwand, setzte sich auf einen grasbewachsenen Hügel und schaute auf die in der Sonne blinkenden Wellen.
Einige Augenblicke später sah sie Mr. Brooke den Weg heraufkommen.
Er blieb vor ihr stehen und sagte verwundert: „Sie sind heute so nachdenklich, Madam! Gestatten Sie?“ Ohne auf ihre Erlaubnis zu warten, ließ er sich neben ihr nieder und fragte leise: „Habe ich etwas getan, das Sie gekränkt hat?“
„Nein, natürlich nicht.“
„Ich weiß, in der Vergangenheit habe ich Sie oft genug verstimmt, doch nun hoffe ich, daß wir Freunde sind. Sind auch Sie der Meinung, es sei eine Entweihung dieses Fleckchens Erde, wenn man hier Häuser erbaut?“
„Nein“, antwortete Olivia. „Oft ist es allerdings so, daß der Reiz einer Landschaft durch
Bauwerke
vollkommen
zerstört
wird.
Man
muß
sehr
viel
Fingerspitzengefühl haben und genau abwägen, wo man Eingriffe in die Natur vornehmen kann und wo nicht. Haben denn die Einheimischen Einwände gegen die vorgesehene Anlage?“
„Nein, ganz und gar nicht. Für eine landwirtschaftliche Nutzung ist das Gelände hier viel zu steil und der Boden zu karstig. Hinter dem Ende der Klippe liegt ein Fischerdorf, dessen Bewohner schwere Zeiten durchmachen. Zu viele junge Männer sind zum Marinedienst gepreßt worden. Der Eigentümer des Landes läßt sich nie blicken und kümmert sich überhaupt nicht um seinen Besitz.“ Olivia war beeindruckt von Mr. Brookes Vorhaben. „Wenn Sie hier bauen, hätten die Leute Arbeit“, erwiderte sie bedächtig.
„Ja, doch das ist nicht der einzige Grund, warum ich mich mit diesem Projekt befasse. Die meisten Menschen halten mich für einen weltfremden Dummkopf.
Deshalb rede ich nicht gern über meine Pläne.“
Olivia glaubte ihm nicht. Von Mrs. Channing wußte sie, daß er bescheiden und stets bemüht war, nicht als Wohltäter zu gelten. „Ich bin nicht sehr informiert, wie groß die Armut der Landbevölkerung in England ist“, gab sie freimütig zu.
„Hier wirkt alles sehr gepflegt und wohlhabend. Aber ich kann mir denken, daß es nicht überall so ist. In Irland herrscht große Not. Die Lebensbedingungen der einfachen Leute sind beschämend, doch die Reichen scheinen zu meinen, alles sei in bester Ordnung.“
„Für sie ist es das sicherlich“, stimmte Tom zu. „Ich vermute, Sie vertreten diese Ansichten, weil Sie keine Irin sind. Wie haben Sie in Irland gelebt?“ Olivia erzählte ihm von dem kleinen, einige Meilen von Dublin entfernten Haus auf dem Land, in dem sie mit der Stiefmutter gewohnt, und von dem glücklichen Dasein, das sie dort geführt hatte. Sie hätte noch Stunden mit ihm plaudern können, aber die anderen, die mit nach Tatton Cove gekommen waren, wurden ungeduldig und wollten nach Parmouth zurück.
Auf dem Heimweg war sie in Mr. Brookes Nähe seltsam befangen und hatte sehr zwiespältige Gefühle. Ihr war, als bestehe sie aus zwei verschiedenen Personen.
Die eine unterhielt sich mit Mr. Brooke, lächelte ihn an, war seiner Meinung oder widersprach ihm; die andere wog jede Geste, jedes von ihr geäußerte Wort sorgsam ab, grübelte über die mögliche Wirkung auf ihn nach und war sehr betroffen, wenn die Möglichkeit bestand, daß er einen falschen Eindruck von ihr gewinnen konnte. So etwas war Olivia noch nie passiert. Sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, was andere Menschen von ihr halten mochten.
Es wäre dumm gewesen, sich nicht einzugestehen, warum sie innerlich plötzlich so verändert war. Der Grund lag auf der Hand. Sie hatte sich in Thomas Brooke verliebt. Unangenehm war nur, daß sie nun Gefahr lief, durch ihr nervöses, in sich gekehrtes und befangenes Verhalten den Mann, den sie liebte, zu langweilen,
statt
ihn
wie
früher
möglicherweise
durch
freimütige
Meinungsäußerung und gefestigtes Selbstbewußtsein vor den Kopf zu stoßen.
Einige Tage nach dem Ausflug zur Bucht von Tatton Cove kehrte Olivia in die Bibliothek von Rosamond's Bower zurück, um das Reticule zu holen, das Cousine Elizabeth dort vergessen hatte. Sie öffnete die Tür und hörte Mr. Brooke
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