My Lady 0145 - Sheila Bishop - Der geraubte Kuss
verschlossen. Wie man sich gibt, hängt doch sehr von den Umständen ab, in denen man sich befindet, nicht wahr? Hätte ich den Tod meines Gatten zu beklagen, wäre Mr. Walsh genau der verständnisvolle, einfühlsame Mann, an den ich mich halten würde.“ Tom lachte laut auf.
Seine Augen funkelten belustigt, und das Lachen war herzerfrischend und ansteckend. „Ich weiß nicht, was Sie an meiner Bemerkung so erheitert“, sagte Olivia und bemühte sich, ein ernstes Gesicht zu machen.
„Die Vorstellung, daß Sie eine trauernde Witwe sein könnten! Wie wollen Sie Ihren Gemahl denn unter die Erde bekommen? Indem Sie ihn zum Wahnsinn treiben?“
Olivia merkte, daß Thomas Brooke wieder mit ihr flirtete, und genoß es.
Nach dieser Begegnung verlor sie in seiner Nähe die Befangenheit und hörte auf, sich darüber Gedanken zu machen, ob ihre charakterlichen Mängel vielleicht den Mann abschrecken könnten, der im Begriff war, sich in sie zu verlieben. Sie fühlte sich ungemein erleichtert, und auch er schien die Veränderung zu bemerken.
Abends im Kurhaus setzten sie sich im Gang, der zum Ballsaal führte, auf ein zwischen zwei Pilastern stehendes, mit rotem Samt bezogenes Sofa. Es war warm, und hin und wieder schlenderte ein Paar an ihnen vorüber, um im Freien etwas frische Luft zu schnappen. Sie konnten von allen Leuten gesehen werden, und somit hatte die Tatsache, daß sie zusammensaßen und plauderten, nichts Unschickliches. Dennoch waren sie ungestört, denn die Sitzgelegenheiten zu beiden Seiten waren unbesetzt.
„Ich bin froh, daß Sie wieder zu Ihrem früheren Ich zurückgefunden haben“, sagte Tom lächelnd. „Sie waren die ganze Woche reichlich still und in sich gekehrt.“
„Wirklich?“
„Ja, und ich glaubte, den Grund zu kennen.“
„Tatsächlich?“ Olivia hielt den Atem an.
Tom nahm ihre Brisee und begann, ihr etwas Kühlung zuzufächeln. „Haben Sie darüber nachgedacht, ob Sie den trauernden Witwer als Gatten akzeptieren sollen?“
„Nein, natürlich nicht!“ antwortete sie irritiert. „Er hat mir keinen Heiratsantrag gemacht, und ich bin nicht einmal sicher, daß er sich mit dieser Absicht trägt. Mir ist nicht klar, warum Sie darüber scherzen. Erhielte ich einen Heiratsantrag, würde ich gewiß nicht mit jemandem, der… mit irgend jemandem darüber reden.“
Eine unbehagliche Pause trat ein. Dann erwiderte Tom: „Ich bitte um Entschuldigung, Madam. Selbstverständlich haben Sie recht. Es war ungehörig von mir, das Thema anzuschneiden.“
Eine Weile blieben sie schweigend sitzen. Olivia wußte, daß ihre Verstimmung gerechtfertigt war. Aber diese Verärgerung beruhte auch auf der Enttäuschung, daß Thomas Brooke nicht darüber sprach, was zu hören sie eigentlich erwartet hatte.
Plötzlich sagte er bedächtig: „Ich habe darüber nachgedacht, daß Sie am Tage des Picknicks im Moor auf dem Heimweg nach Parmouth geäußert haben, aufgrund der bestehenden gesellschaftlichen Spielregeln sei es für eine Frau und einen Mann oft sehr schwierig, die Absichten des anderen zu erkennen. Ich könnte hinzufügen, daß manche Leute nicht einmal die wenigen Gelegenheiten nutzen, die sich ihnen bieten. Man sollte nicht heiraten, wenn man sich nur flüchtig kennt.“
„Ich bin ganz Ihrer Meinung.“
„Ich bin sicher, Sie würden niemals eine lebenslange Bindung eingehen, wenn Sie nur flüchtig mit dem Mann bekannt wären“, erwiderte Tom und schaute Miss Fenimore herausfordernd an.
Sie war überzeugt, daß unter solchen Umständen auch er nicht heiraten würde.
Nach dem Ende des Balles tadelte Elizabeth die Cousine dafür, so viel Zeit mit Mr. Brooke verbracht zu haben. „Du kommst ins Gerede, Olivia“, sagte sie streng. „Das ist nie gut! Es geht nicht nur darum, sich anständig aufzuführen und nicht für hemmungslos gehalten zu werden. Ich weiß, du würdest dich nie exponieren. Aber ein vernünftiger Mann widmet seine Aufmerksamkeit keiner Dame, von der er annehmen muß, daß sie flatterhaft ist. Mr. Walsh interessiert sich nicht mehr für dich. Und bilde dir nur nicht ein, Thomas Brooke würde dich heiraten! Das wird er nicht! Verlaß dich darauf!“
„Im Moment habe ich gar nicht vor, mich zu vermählen“, entgegnete Olivia leichthin und merkte, daß sie zum ersten Mal im Leben gelogen hatte. Inzwischen wünschte sie sich sehr, Thomas Brookes Gemahlin zu werden, und hatte den Eindruck, ohne sich vorwerfen zu müssen, eingebildet zu sein, daß auch er in sie verliebt war
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