My Lady 0145 - Sheila Bishop - Der geraubte Kuss
und ernsthaft die Möglichkeit einer Ehe mit ihr in Erwägung zog.
Aber er würde sich ihr erst dann erklären, wenn er sicher war, daß sie genügend gemeinsame Interessen hatten, um miteinander glücklich zu werden. Das hatte er ihr mehr als einmal deutlich zu verstehen gegeben, und sie achtete seinen Standpunkt.
In den folgenden Tagen vertiefte sich bei ihr der Eindruck, daß sie und Thomas Brooke wundervoll zueinanderpaßten. Sie wie er liebten das Landleben, fanden Gefallen an Ausflügen, Musik, Literatur und Geschichte. Er war viel belesener als sie, aber sie konnte ihre Ansichten vertreten und untermauern, selbst in politischen Gesprächen. Beide zogen sie die Einsamkeit und Ruhe dem Betrieb im Städtchen vor, genossen es andererseits, wenngleich nur für kurze Zeit, gesellschaftlichen Umgang zu pflegen. Eine weitere Gemeinsamkeit war, daß jeder von ihnen die Eltern schon in jungen Jahren verloren hatte. Er hatte keine ihm nahestehenden Angehörigen, und das erklärte vielleicht, warum er nicht häufig in Cassondon weilte, obwohl er seinen Stammsitz mochte.
In dieser Hinsicht würde er sich gewiß ändern, sobald er verheiratet war. Daß er Kinder liebte, hatte Olivia daran gesehen, wie er mit den Töchtern der Channings umging.
Eines Abends saß man beim Tee in der Bibliothek von Vale Manor zusammen, als er eine Sammlung von Stichen hervorholte, um sie Mrs. Wakelin und deren Schwägerin zu zeigen. Die meisten Bilder stellten Cassondon dar, das den beiden Damen bereits aus eigener Anschauung geläufig war.
Es war ein sehr großes, im vergangenen Jahrhundert im klassizistischen Stil errichtetes Gebäude, in einem herrlichen Park und besonders reizvoller Umgebung gelegen. Olivia hatte jedoch den Eindruck, er habe die Zeichnungen nur ihr zuliebe ausgebreitet, damit sie es kennenlernen könne. Er sah ständig zu ihr herüber und war sichtlich daran interessiert, was sie zu sagen hatte. Sie äußerte sich indes nicht sehr oft. Es fiel ihr schwer, die Begeisterung über das prachtvolle Anwesen zu dämpfen, denn sie befürchtete, wenn sie allzu überschwengliche
Anmerkungen
machte,
könne
er
glauben,
sie
habe
Hintergedanken.
Elizabeth blätterte die Stiche durch und stieß plötzlich auf ein Bild, das nicht zu der Abfolge von Darstellungen Cassondons gehörte. „Was für ein romantisches altes Haus!“ sagte sie entzückt. „Es stammt aus der Tudorzeit, nicht wahr? Wo ist es, und wer ist der Besitzer?“
Tom schaute ihr über die Schulter und antwortete lächelnd: „Es ist mein Eigentum. Das ist Maygrove.“
Unwillkürlich zuckte Olivia leicht zusammen bei der Erwähnung des Namens jenes geheimnisvollen Anwesens, das sie, Hetty und deren Mann auf der Hochzeitsreise bestaunt hatten. Sie hatte überhaupt nicht mehr an Maygrove gedacht.
Als Elizabeth hörte, daß es nur eine Stunde Fahrt von Parmouth entfernt war, bat sie Mr. Brooke, sie dort hinzukutschieren.
„Ich fürchte, das ist nicht möglich“, lehnte er die Bitte ab.
„Warum nicht?“
„Weil es zur Zeit bewohnt ist. Wir kämen ungelegen.“
„Warum sollten die Leute etwas gegen unseren Besuch haben? Fragen Sie doch an, ob wir ihnen genehm wären.“
„Nein!“ erwiderte Tom in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
Schmollend verzog Elizabeth den Mund, und Gatte und Schwägerin wechselten hastig das Thema.
Olivia entsann sich der häßlichen Andeutungen der Wirtin in Maygrove und fragte sich, ob Mr. Brooke in seinem Haus eine seiner Mätressen untergebracht hatte.
Aber eigentlich hatte er kaum die Möglichkeit, sie dort aufzusuchen. Gewiß, er verbrachte nicht jeden Tag mit Olivia, doch im allgemeinen erzählten sie sich, was sie mit wem und wo unternommen hatten.
Tom setzte sich neben Miss Fenimore und begann, die Stiche wieder in die Mappe zu legen. „Sie sehen müde aus, Madam“, sagte er leise. „Fühlen Sie sich nicht wohl?“
„Sie meinen, ich wirke so abgespannt, weil ich zu lange in der Sonne war.“
„Dann würde ich die Sonne meiden. Morgen muß ich mit Mr. Osgood geschäftlich nach Brantisford, aber wir sehen uns doch abends beim Konzert, nicht wahr?“
„Ja“, antwortete Olivia und dachte daran, daß er wohl kaum mit Mr. Osgood zu dem übelbeleumdeten Haus in Maygrove fahren würde.
6. KAPITEL
Olivia bezweifelte nicht, daß Thomas Brooke in der Vergangenheit Liebschaften gehabt hatte, und die Einwohner eines kleinen Dorfes vergaßen im allgemeinen nicht sehr schnell, was sich in ihrer Mitte zutrug.
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